Entscheidungsstichwort (Thema)
Mutter-Tochter-Richtlinie, Quellensteuerabzug, Fairness-Tax, Dividendenbesteuerung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Niederlassungsfreiheit ist dahin auszulegen, dass sie einer Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ‐ nach der sowohl eine gebietsfremde Gesellschaft, die in diesem Mitgliedstaat eine Tätigkeit über eine Betriebsstätte ausübt, als auch eine gebietsansässige Gesellschaft, einschließlich der gebietsansässigen Tochtergesellschaft einer gebietsfremden Gesellschaft, einer Steuer wie der Fairness Tax unterliegen, wenn sie Dividenden ausschütten, die aufgrund der Anwendung bestimmter, im nationalen Steuerrecht vorgesehener Steuervergünstigungen nicht in ihrem endgültigen steuerpflichtigen Ergebnis enthalten sind ‐ nicht entgegensteht, vorausgesetzt, die Art und Weise der Ermittlung der Bemessungsgrundlage dieser Steuer hat nicht tatsächlich zur Folge, dass die gebietsfremde Gesellschaft weniger günstig behandelt wird als eine gebietsansässige Gesellschaft, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
2. Art. 5 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass er einer Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ‐ die eine Steuer wie die Fairness Tax vorsieht, der sowohl die gebietsfremden Gesellschaften, die in diesem Mitgliedstaat eine Tätigkeit über eine Betriebsstätte ausüben, als auch die gebietsansässigen Gesellschaften, einschließlich der gebietsansässigen Tochtergesellschaft einer gebietsfremden Gesellschaft, unterliegen, wenn sie Dividenden ausschütten, die aufgrund der Anwendung bestimmter, im nationalen Steuerrecht vorgesehener Steuervergünstigungen nicht in ihrem endgültigen steuerpflichtigen Ergebnis enthalten sind ‐ nicht entgegensteht.
3. Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/96 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Steuerregelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, soweit diese Regelung in einer Situation, in der die Gewinne, die einer Muttergesellschaft von ihrer Tochtergesellschaft zufließen, von dieser Muttergesellschaft nach Ablauf des Jahres, in dem ihr diese Gewinne zugeflossen sind, ausgeschüttet werden, zur Folge hat, dass diese Gewinne einer Besteuerung unterworfen werden, die den in dieser Vorschrift vorgesehenen Höchstbetrag von 5 % übersteigt.
Normenkette
EURL 96/2011 Art. 5, 4 Abs. 1 Buchst. A
Beteiligte
Verfahrensgang
Grondwettelijk Hof (Belgien) (Beschluss vom 28.01.2015; Abl.EU 2015, Nr. C 146/16) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Niederlassungsfreiheit ‐ Mutter-Tochter-Richtlinie ‐ Steuerrecht ‐ Steuer auf die Gewinne von Gesellschaften ‐ Ausschüttung von Dividenden ‐ Steuerabzug an der Quelle ‐ Doppelbesteuerung ‐ Fairness Tax“
In der Rechtssache C-68/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheidung vom 28. Januar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Februar 2015, in dem Verfahren
X
gegen
Ministerraad
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund (Berichterstatter),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von X, vertreten durch T. Engelen, L. Ketels und Ph. Renier, advocaten,
‐ der belgischen Regierung, vertreten durch J.-C. Halleux, D. Delvaux, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte,
‐ der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, J.-S. Pilczer und S. Ghiandoni als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und C. Soulay als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. November 2016
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 49 AEUV sowie von Art. 4 Abs. 3 und Art. 5 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2011, L 345, S. 8) (im Folgenden: Mutter-Tochter-Richtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und dem Ministerraad (Ministerrat, Belgien) in Bezug auf eine Klage auf Nichtigerklärung der nationalen Rechtsvorschriften zur Einführung einer von der Gesellschaftssteuer und der Steuer der Gebietsfremden getrennten, als Fairness Tax bezeichneten Steuer, der gebietsansässige und gebietsfremde Gesellschaften unterliegen, wenn sie Dividenden ausschütten, die aufgrund der Anwendung bestimmter, im nationalen Steuerrecht vorgesehener Steuervergünstigungen nicht im endgült...