Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Harmonisierung des Steuerrechts. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Recht auf Vorsteuerabzug. Löschung der mehrwertsteuerlichen Registrierung eines Steuerpflichtigen. Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug. Formelle Voraussetzungen
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 168, 273, 213 Abs. 1, Art. 214 Abs. 1
Beteiligte
Direcţia Generală a Finanţelor Publice Cluj – Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Bihor |
Verfahrensgang
Judecătoria Oradea (Rumänien) (Beschluss vom 09.07.2020; ABl. EU 2020, Nr. C 378/17) |
Tenor
Art. 168, Art. 213 Abs. 1, Art. 214 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer sind im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass sie in dem Fall, in dem die mehrwertsteuerliche Registrierung eines Steuerpflichtigen gelöscht wurde, weil in seinen eingereichten Mehrwertsteuererklärungen für sechs aufeinanderfolgende Monate keine steuerbaren Umsätze angegeben wurden, dieser Steuerpflichtige aber seine Tätigkeit trotz dieser Löschung fortführt, nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, nach denen die zuständige Finanzverwaltung diesen Steuerpflichtigen verpflichten kann, die geschuldete Mehrwertsteuer auf seine steuerbaren Umsätze zu erheben, sofern er eine neue mehrwertsteuerliche Registrierung beantragen und die entrichtete Mehrwertsteuer als Vorsteuer abziehen kann. Der Umstand, dass der Geschäftsführer des Steuerpflichtigen Gesellschafter einer anderen Gesellschaft ist, die sich in einem Insolvenzverfahren befindet, kann als solcher nicht geltend gemacht werden, um diesem Steuerpflichtigen systematisch eine neue mehrwertsteuerliche Registrierung zu versagen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Judecătoria Oradea (Amtsgericht Oradea, Rumänien) mit Entscheidung vom 9. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juli 2020, in dem Verfahren
Promexor Trade SRL
gegen
Direcţia Generală a Finanţelor Publice Cluj – Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Bihor
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters F. Biltgen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer sowie der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Promexor Trade SRL, vertreten durch R. Chiriţă, avocat,
- der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, A. Rotăreanu und A. Wellman als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 1, 167 bis 169, 176 bis 180, von Art. 214 Abs. 1 sowie der Art. 250, 272 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie der Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Effektivität, der loyalen Zusammenarbeit, der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Promexor Trade SRL (im Folgenden: Promexor) und der Direcţia Generală a Finanţelor Publice Cluj – Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Bihor (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Cluj – Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Bihor, Rumänien) (im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen der Verpflichtung von Promexor, der das Recht auf Vorsteuerabzug wegen der Löschung ihrer mehrwertsteuerlichen Registrierung versagt wurde, die Mehrwertsteuer auf ihre steuerbaren Umsätze zu entrichten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.”
Rz. 4
Art. 168 dieser Richtlinie bestimmt:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
- die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
- die Mehrwertsteu...