Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld. Befähigung zum Selbstunterhalt eines behinderten Kindes, das Hilfe zum Lebensunterhalt bezieht
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei behinderten Kindern kommt zum Grundbedarf ein individueller behinderungsbedingter Mehraufwand hinzu, den gesunde Kinder nicht haben. Dazu gehören – in den Grenzen der Angemessenheit – alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen.
2. Der steuerrechtliche Begriff des Außerstandeseins zum Selbstunterhalt ist im Sinne einer einheitlichen steuerrechtlichen Auslegung auch im Kindergeldrecht anzuwenden.
3. Steht aufgrund der tatsächlich gezahlten Hilfe zum Lebensunterhalt fest, dass der Grundbedarf des Kindes im konkreten Fall wegen der örtlichen Besonderheiten höher liegt, und ist das Kind in der Folge außerstande, sich selbst zu unterhalten, ist das behinderte Kind auch dann noch gemäß § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen, wenn ihm zur Deckung seines Grundbedarfs Mittel zur Verfügung stehen, die den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 S. 2 EStG übersteigen.
4. Bei einem Kind, das Hilfe zum Lebensunterhalt erhält, entfällt die Fähigkeit, seinen notwendigen Grundbedarf aus eigenen Mitteln bestreiten zu können, wenn bei den Eltern Regress genommen wird und wenn ihm keine weiteren Mittel zur Deckung seines Grundbedarfs zur Verfügung stehen.
Normenkette
EStG 2002 § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3, S. 2, § 70 Abs. 2; SGB IX § 2 Abs. 2; SGB XII § 19 Abs. 1
Tenor
Der Bescheid vom …2008 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom …2009 werden aufgehoben, soweit die Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar bis Juli 2007 aufgehoben und das gezahlte Kindergeld zurückgefordert worden ist.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden zu 5/12 der Klägerin und zu 7/12 der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, wenn nicht diese vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin ist Mutter der am …1982 geborenen D und durch Beschluss des Amtsgerichts E vom …2006 zu deren Betreuerin mit den Aufgabenkreisen Gesundheitsvorsorge, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten und Vertretung gegenüber Behörden bestellt worden. D hat laut dem Schwerbehindertenausweis vom …2003 einen Grad der Behinderung von 80 % mit den Merkzeichen „B” (Notwendigkeit ständiger Begleitung ist nachgewiesen) und „aG” (außergewöhnlich gehbehindert). Laut dem Schwerbehindertenausweis vom …2002 hatte D zuvor bereits einen Grad der Behinderung von 50 % mit dem Merkzeichen „G” (gehbehindert).
Mit Bescheid vom …2006 gewährte die Beklagte der Klägerin für das Kind D laufend Kindergeld ab August 2006 in Höhe von 154,– EUR monatlich.
In der Erklärung vom …2007 gab die Klägerin gegenüber der Beklagten an, D sei ledig, lebe in einem eigenen Haushalt und beziehe Hilfe zum Lebensunterhalt. Beigefügt war ein Bescheid des Bezirksamtes F vom …2007 über die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für D, wonach vom Rententräger eine Erwerbsunfähigkeit auf Zeit – bis X.X.2009 – bestätigt worden sei, wodurch in Verbindung mit der Gehbehinderung von D ein Mehrbedarf bewilligt werden könne. Anlage des Bescheides war eine Bedarfsberechnung für Februar 2007, wonach D einen monatlichen Bedarf an Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 1.037,53 EUR und an Hilfe zur Pflege nach Kapitel 5-9 SGB XII in Höhe von 9,20 EUR bei einem Einkommenseinsatz von 0,00 EUR hatte. Die Hilfe zum Lebensunterhalt gliederte sich auf in:
Regelbedarf (§ 28 Abs. 1 SGB XII) |
345,00 EUR |
Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 30 SGB XII) |
58,65 EUR |
Kranken- und Pflegeversicherung (§ 32 SGB XII) |
(122,40 EUR und 17,30 EUR =) 139,70 EUR |
Kosten der Unterkunft/Miete (§ 29 Abs. 1 SGB XII) |
444,83 EUR |
Heizungskosten abzüglich im Warmwasseranteil (§ 29 Abs. 3 SGB XII) |
(55,88 EUR – 6,53 EUR =) 49,35 EUR |
Summe Hilfe zum Lebensunterhalt |
1.037,53 EUR |
Die Summe der laufenden Sozialhilfe von (1.037,53 EUR + 9,20 EUR =) 1.046,73 EUR wurde in Höhe von 897,83 EUR der Tochter D, in Höhe von 9,20 EUR der G-Hilfe und in Höhe von 139,70 EUR der Krankenkasse zugeordnet. Der – frühere – Bescheid vom X.X.2006 wurde mit Wirkung ab 01.01.2007 widerrufen.
Mit Bescheid vom 13.02.2008 lehnte die Beklagte den Kindergeldantrag vom 29.11.2007 ab Januar 2008 ab, weil das Kind durch eigene Einkünfte und Bezüge imstande sei, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der dagegen erhobene Einspruch wurde durch Einspruchsentscheidung vom 01.07.2008 zurückgewiesen.
Bereits unter dem Datum vom 13.02.2008 hatte die Beklagte die Klägerin des weiteren dazu angehört, dass sie für den Zeitraum von Januar bis Dezember 2007 Kindergeld in Höhe von 1.848,– EUR erhalten habe, obwohl die Bezüge der Tochter im Jahr 2007 deren Bedarf überstiegen hätten.
Mit Bescheid vom …2008 ...