Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld. Unmaßgeblichkeit des Jahresgrenzbetrags nach § 32 Abs. 4 S. 2 EStG bei volljährigem behinderten Kind, das Hilfe zum Lebensunterhalt bezieht
Leitsatz (redaktionell)
1. Auch bei behinderten Kindern sind unter Einkünften und Bezügen die Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 2 EStG und alle Zuflüsse in Geld oder Geldeswert zu verstehen, die nicht bei der einkommensteuerrechtlichen Einkunftsermittlung erfasst werden und zur Unterhaltsbestreitung bestimmt oder geeignet sind. Lediglich diejenigen Beträge, die von Gesetzes wegen dem Kind oder dessen Eltern tatsächlich nicht zur Verfügung stehen, sondern anderen Zwecken als der Bestreitung des Unterhaltes zu dienen bestimmt sind, sind nicht einzubeziehen.
2. In die Gesamtberechnung sind auch behinderungsbedingte Bezüge als zur Verfügung stehende Mittel einzubeziehen, wobei dann auf der Bedarfsseite der entsprechende behinderungsbedingte Mehrbedarf anzusetzen ist.
3. Es ist ernstlich zweifelhaft, ob der Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 S. 2 EStG auch dann maßgebend sein kann, wenn aufgrund der tatsächlich gezahlten Hilfe zum Lebensunterhalt feststeht, dass der Grundbedarf des behinderten Kindes im konkreten Fall wegen der örtlichen Besonderheiten höher liegt. Der BFH hat hervorgehoben, dass der Gesetzgeber den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 S. 2 EStG nur für die von § 32 Abs. 4 S. 1 Nrn. 1 und 2 EStG erfassten Kinder festgelegt und sich diese gesetzliche Typisierung nicht auf behinderte Kinder erstreckt.
4. Bei einem Kind, das Hilfe zum Lebensunterhalt erhält, entfällt die Fähigkeit, seinen notwendigen Grundbedarf aus eigenen Mitteln bestreiten zu können, wenn bei den Eltern Regress genommen wird und wenn ihm keine weiteren Mittel zur Deckung seines Grundbedarfs zur Verfügung stehen.
Normenkette
EStG 2002 § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3, S. 2, § 63 Abs. 1 S. 2; FGO § 69 Abs. 3 S. 1, Abs. 2 S. 2
Tenor
Die Vollziehung des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 07.07.2008 wird bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe einer das Verfahren 4 K 4137/09 abschließenden Entscheidung ausgesetzt.
Die Kosten des Verfahrens werden der Antragsgegnerin auferlegt.
Die Beschwerde wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Die Antragstellerin ist Mutter der am 23.06.1982 geborenen B und durch Beschluss des Amtsgerichts … – zu deren Betreuerin mit den Aufgabenkreisen Gesundheitsvorsorge, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten und Vertretung gegenüber Behörden bestellt worden. B hat laut dem Schwerbehindertenausweis vom 29.09.2003 einen Grad der Behinderung von 80 % mit den Merkzeichen „B” (Notwendigkeit ständiger Begleitung ist nachgewiesen) und „aG” (außergewöhnlich gehbehindert). Laut dem Schwerbehindertenausweis vom 01.03.2002 hatte B zuvor bereits einen Grad der Behinderung von 50 % mit dem Merkzeichen „G” (gehbehindert).
Mit Bescheid vom 11.07.2006 gewährte die Antragsgegnerin der Antragstellerin für das Kind B laufend Kindergeld ab August 2006 in Höhe von 154,– EUR monatlich.
In der Erklärung vom 29.11.2007 gab die Antragstellerin gegenüber der Antragsgegnerin an, B sei ledig, lebe in einem eigenen Haushalt und beziehe Hilfe zum Lebensunterhalt. Beigefügt war ein Bescheid des Bezirksamtes … von B… vom 11.01.2007 über die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für B, wonach vom Rententräger eine Erwerbsunfähigkeit auf Zeit – bis 30.11.2009 – bestätigt worden sei, wodurch in Verbindung mit der Gehbehinderung von B ein Mehrbedarf bewilligt werden könne. „Ab dem 01.01.2007” sei die Hilfe für B neu berechnet worden. Anlage des Bescheides war eine Bedarfsberechnung für Februar 2007, wonach B einen monatlichen Bedarf an Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 1.037,53 EUR und an Hilfen nach Kapitel 5-9 SGB XII in Höhe von 9,20 EUR bei einem Einkommenseinsatz von 0,00 EUR hatte. Die Hilfe zum Lebensunterhalt gliederte sich auf in
Regelbedarf (§ 28 Abs. 1 SGB XII) |
345,00 EUR |
Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 30 SGB XII) |
58,65 EUR |
Kranken- und Pflegeversicherung (§ 32 SGB XII) |
(122,40 EUR und 17,30 EUR =) 139,70 EUR |
Kosten der Unterkunft/Miete (§ 29 Abs. 1 SGB XII) |
444,83 EUR |
Heizungskosten abzüglich im Warmwasseranteil (§ 29 Abs. 3 SGB XII) |
(55,88 EUR - 6,53 EUR =) 49,35 EUR |
Summe Hilfe zum Lebensunterhalt |
1.037,53 EUR |
Die Summe der laufenden Sozialhilfe von (1.037,53 EUR + 9,20 EUR =) 1.046,73 EUR wurde in Höhe von 897,83 EUR der Tochter B, in Höhe von 9,20 EUR der C.-Hilfe und in Höhe von 139,70 EUR der …Versicherung zugeordnet. Der – frühere – Bescheid vom 22.12.2006 werde mit Wirkung ab 01.01.2007 widerrufen.
Mit Bescheid vom 13.02.2008 lehnte die Antragsgegnerin den Kindergeldantrag vom 29.11.2007 ab Januar 2008 ab, weil das Kind durch eigene Einkünfte und Bezüge imstande sei, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der dagegen erhobene Einspruch wurde durch Einspruchsentscheidung vom 01.07.2008 zurückgewiesen.
Bereits unter dem Datum vom 13.02.2008 hatte die Antragsgegnerin die Antragstellerin des weiteren dazu angehört, dass sie...