Entscheidungsstichwort (Thema)
Bindungswirkung rechtskräftiger Urteile. Streitgegenstand. Steuerbefreiung der von staatlich examinierten Altenpfegern erbrachten Leistungen der Behandlungspflege
Leitsatz (redaktionell)
1. Zum Streitgegenstand im Sinne des § 110 Abs. 1 Nr. 1 FGO gehört die Teilmenge aller mit dem angefochtenen Verwaltungsakt erfassten Besteuerungsgrundlagen zu denen das Gericht selbstentscheidende Feststellungen getroffen hat.
2. Für die Frage, ob der Steuerpflichtige aufgrund von Vereinbarungen/Rechtsbeziehungen im Sinne des § 4 Nr. 16 Buchst. b-k UStG tätig wurde, kommt es nicht darauf an, ob er die Tätigkeit auch aufgrund von Verträgen mit den Sozialversicherungsträgern in gleicher Weise hätte ausüben können. Entscheidend sind nur die tatsächlich bestehenden Vereinbarungen.
3. Voraussetzung für die Erbringung von eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen im Sinne des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL ist die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter. Zu einer solchen führt nicht allein der Umstand, dass die Steuerpflichtige als staatlich geprüfte Altenpflegerin einer Überprüfung durch eine öffentliche Stelle unterliegt.
4. Zu den nach § 4 Nr. 14 Buchst. a Satz 1 UStG steuerfreien Leistungen zählen Leistungen der sogenannten Behandlungspflege, jedoch nicht der sogenanten Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung, die von staatlich examinierten Altenpfleger(inne)n erbracht werden. Eine Leistungsbeziehung zwischen der pflegenden und der zu pflegenden Person ist nicht erforderlich.
Normenkette
UStG § 4 Nrn. 14, 16; EGRL 112/2006 Art. 132 Abs. 1 Buchst. g; FGO § 110 Abs. 1 Nr. 1
Tenor
Abweichend vom Umsatzsteuerbescheid 2016 vom 25.01.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 06.05.2022 wird die Umsatzsteuer auf 4.326,48 EUR festgesetzt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Klägerin zu 49 % und dem Beklagten zu 51 % auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die von der Klägerin im Streitjahr erzielten Umsätze der Umsatzsteuer unterlagen.
Die Klägerin legte im Jahr 2007 die staatliche Prüfung in der Altenpflege nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Altenpflegegesetzes vom 17.11.2000 vor dem staatlichen Prüfungsausschuss erfolgreich ab. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales C… erteilte ihr mit einer Urkunde vom 10.06.2013 die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung „Altenpflegerin” aufgrund des Altenpflegegesetzes. Am 10.06.2013 zeigte die Klägerin gemäß § 14 des Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst vom 25.05.2006 den Beginn ihrer Selbständigkeit beim Landesamt für Gesundheit und Soziales C… an.
Die Klägerin ist seit dem 01.03.2010 als Altenpflegerin selbständig tätig.
Ausweislich einer bei der Umsatzsteuerakte (angelegt 2022) –UA 2022– befindlichen Kontrollmitteilung erzielte die Klägerin im Streitjahr Bruttoeinnahmen von der Firma B… e. Kfr. in Höhe von 27.999,55 EUR. Einen auszugsweisen Ausdruck der Website dieser Firma hat das Gericht zur Gerichtsakte –GA– des Verfahrens 7 K 7068/21 (Bl. 341) genommen, worauf es Bezug nimmt. Im selben Verfahren hat der erkennende Senat am 04.04.2022 beschlossen, Beweis zu erheben über die Behauptung der Klägerin, sie habe in den Streitjahren 2017 bis 2019 im Rahmen ihrer unternehmerischen Tätigkeit ausschließlich oder jedenfalls im Wesentlichen Leistungen der Behandlungspflege (z.B. Inbetriebnahme und Überwachung von Beatmungsgeräten, Injektionen, Verbandswechsel, die Dekubitusversorgung, das An- und Ausziehen von Kompressionstrümpfen ab Klasse 2, eine oro/traceale Sekretabsaugung, das Einreiben mit Dermatika, das Verabreichen eines Klistiers bzw eines Einlaufs, die Einmalkatheterisierung, das Wechseln einer Sprechkanüle gegen eine Dauerkanüle bei einem Tracheostomapatienten zur Ermöglichung des Schluckens, Maßnahmen zur Sekretlimitation bei Mukoviszidose oder Erkrankungen vergleichbaren Hilfebedarfs) u.a. durch Einholung einer schriftlichen Auskunft des in der B… e. Kfr. leitend tätigen D…. Nach den im Verfahren 7 K 7068/21 vorgelegten Unterlagen hatte die Klägerin gegenüber der B… e. Kfr. mit Rechnungen vom 27.02.2017 Nr. O1-17 über 857,50 EUR brutto und vom 08.01.2018 Nr. O1-18 über 1.302,00 EUR abgerechnet. Herr D… erteilte darauf mit Schriftsatz vom „15.06.2017” (Eingang bei Gericht am 28.04.2022) die Auskunft, dass die B… e. Kfr. auf die sog. außerklinische Intensivpflege spezialisiert sei und dass deren Tätigkeit überwiegend die Behandlungspflege nach dem Sozialgesetzbuch –SGB– V und zum kleineren Anteil nach dem SGB XI umfasse. Die wichtigste Aufgabe sei das unregelmäßige Absaugen der meist tracheotomierten Patienten sowie die Überwachung der Beatmung. Da sie in der 1:1-...