rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Gegenseitiger Ausschluss des Kindergeldanspruchs des Leistungen nach dem SGB II beziehenden, in Deutschland wohnhaften Kindsvaters sowie des Anspruchs der mit den Kindern in Frankreich lebenden, ausschließlich Vermietungseinkünfte in Deutschland erzielenden Kindesmutter auf französisches Kindergeld. Verpflichtung des FG zur Ermittlung des französischen Kindergeldrechts. Änderungsbefugnis des Familienkasse nach § 70 Abs. 2 EStG bei erst nachträglichem Bekanntwerden des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II
Leitsatz (redaktionell)
1. Hat der – Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beziehende – Kindesvater seinen Wohnsitz in Deutschland, hat seine (getrennt lebende, in Deutschland durch Vermietungseinkünfte beschränkt steuerpflichtige) Ehefrau mit den beiden Kindern einen Wohnsitz in Frankreich und ist sie dort auch als deutsche Staatsangehörige zum Bezug von französischen Kinderleistungen berechtigt, weil sie in Frankreich wohnhaft ist, ihren beiden Kindern Unterhalt gewährt und diese Kinder ebenfalls in Frankreich wohnhaft sind, so ist der der Anspruch des Kindsvaters auf Kindergeld nach deutschem Recht für die Jahre 2006 bis 2008 gegenüber dem Anspruch seiner Ehefrau auf Kindergeld nach französischem Recht nicht vorrangig. Das gilt auch unter Berücksichtigung des Rechts der Europäischen Union (hier: Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 i.V.m. der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71); weder die Ehefrau, deren einzige Einkünfte die in Deutschland erzielten Vermietungseinkünfte sind, noch der Kindsvater als Bezieher von Leistungen nach dem SGB II sind Arbeitnehmer oder Selbssttändige i. S. d. Art. 1 a) der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (gegen Niedersächsisches FG, Urteil vom 08.2.2012 – 9 K 50/09).
2. In dem unter 1. geschilderten Sachverhalt schließen sich die Ansprüche des Kindsvaters auf Kindergeld in Deutschland bzw. der Ehefrau auf französisches Kindergeld gemäß § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG gegenseitig aus, da es sich bei dem französischen Kindergeld (allocations familiales) um eine dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistung handelt; der Ausschluss durch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG entfällt auch nicht deshalb, weil der Ehefrau das Kindergeld in Frankreich nach der dort ab 2006 maßgeblichen Rechtslage nicht für beide Kinder, sondern erst für das zweite Kind zusteht.
3. Die Ermittlung des französischen Rechts obliegt dem Finanzericht gemäß § 155 FGO i. V. m. § 293 ZPO selbst. Der Kläger ist insoweit nicht zu erhöhter Mitwirkung verpflichtet, weil es sich um einen Auslandssachverhalt i. S. d. § 90 Abs. 2 AO handelt.
4. Erfährt die Familienkasse erst nachträglich, dass der zuvor in Deutschland nichtselbstständig tätige Kindsvater seit mehreren Jahren nicht mehr nichtselbständig tätig ist, sondern Leistungen nach dem SGB II bezieht, und dass er dadurch seitdem nicht mehr dem Anwendungsbereich der Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und 574/72 unterfällt und deswegen in Deutschland keinen Kindergeldanspruch mehr hat, so ist die Familienkasse nach § 70 Abs. 2 S. 1 EStG zu einer Änderung der Kindergeldfestsetzung und zur Rückforderung des Kindergelds berechtigt.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, § 64 Abs. 1-2, § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 70 Abs. 2 S. 1; EWGV 574/72 Art. 10; EWGV 1408/71 Art. 1a; EWGV 1408/71 Art. 1b; EWGV 1408/71 Art. 2 Abs. 1; AO § 90 Abs. 2; FGO § 155; ZPO § 293
Nachgehend
BFH (Beschluss vom 06.08.2013; Aktenzeichen III B 17/13) |
Tenor
Der Bescheid vom 15. Juli 2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. Juli 2009 wird aufgehoben, soweit darin das Kindergeld für die Tochter des Klägers für die Monate Mai und Juni 2008 nur in Höhe des hälftigen gesetzlichen Kindergeldes festgesetzt wird.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Kindergeldanspruch des Klägers dadurch ganz oder teilweise ausgeschlossen ist, dass für seine Kinder in Frankreich dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistungen zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären.
Der Kläger ist italienischer Staatsbürger. Er ist verheiratet mit einer deutschen Staatsangehörigen. Aus der Ehe sind die am 27. April 1990 geborene Tochter S. und der am 14. Januar 1994 geborene Sohn A. hervorgegangen. Nach der letzten vorliegenden Schulbescheinigung befand sich die Tochter bis Juli 2009 in Schulausbildung.
Der Kläger hat seinen Wohnsitz in Deutschland, seine Ehefrau lebt seit 2001 mit den Kindern in Frankreich. Der Kläger war bis 2002 in Deutschland nichtselbstständig tätig. Er ist seitdem arbeitslos und bezieht seit 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II). Seine Ehefrau ist nicht erwerbstätig, erzielt aber Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Deutschland....