vorläufig nicht rechtskräftig
Revision zugelassen durch das FG
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch von EU-Ausländern ab dem 4. Monat der Einreise – Bezug von SGB II-Leistungen – Voraussetzung der materiellen Freizügigkeitsberechtigung i. S. d. FreizügG/ EU – Vereinbarkeit mit Unionsrecht
Leitsatz (redaktionell)
- Die Regelung des § 62 Abs. 1 a Abs. 1 Satz 3 EStG, die den Kindergeldanspruch eines ins Inland eingereisten Unionsbürgers für den Zeitraum nach Ablauf von drei Monaten nach Begründung seines Wohnsitzes in Deutschland an den rechtmäßigen Aufenthalt im Inland aufgrund einer materiellen Freizügigkeitsberechtigung i. S. d. FreizügG/ EU knüpft, steht nicht im Widerspruch zum europäischen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004.
- Einer zugewanderten Unionsbürgerin, die ihren Lebensunterhalt nur von SGB II-Leistungen bestreitet, ohne vorher jemals berufstätig gewesen zu sein oder eine Arbeit zu suchen, steht daher ab dem 4. Monat nach ihrer Einreise kein Kindergeld zu.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 a S. 3; FreizügG/EU § 2 Abs. 2-3, 7, §§ 4 a, 5 Abs. 4; EGV 883/2004 Art. 4; AEUV Art. 18, 21, 45
Tatbestand
Die Klägerin, eine 1995 in Frankreich geborene, nach eigenen Angaben ledige rumänische Staatsangehörige, beantragte erstmals im März 2014 bei der Beklagten (im folgenden: Familienkasse) Kindergeld für die Tochter T1 (geboren im Februar 2014). Die Klägerin wohnte damals in Z-Stadt , Straße 01 . Sie erklärte, der Vater der Tochter sei unbekannt. Mit Bescheid vom 16.05.2014 setzte die Familienkasse laufendes Kindergeld für T1 ab Februar 2014 fest.
In der Folgezeit hatte die Familienkasse Probleme mit der Übermittlung von Schreiben; die Klägerin hatte sich zwischenzeitlich nach Y-Stadt umgemeldet, zur Straße 02 , Straße 03 und zur Straße 04 . Im Oktober 2019 beantragte die Klägerin (unter der Adresse Straße 03 ) zusätzlich Kindergeld für die Tochter T2 (geboren im August 2019 in X-Stadt [mehr als 500 km entfernt von Z-Stadt und Y-Stadt] ). Die Klägerin erklärte, der Kindesvater sei unbekannt. Die Familienkasse gewährte daraufhin auch für die Tochter T2 Kindergeld ab August 2019.
Im Juni 2020 erfuhr die Familienkasse durch eine Meldeabfrage, dass die Tochter T1 am 30.06.2019 und die Tochter T2 am 5.11.2019 weggezogen waren und dass die Kinder zusammen mit der Klägerin am 29.05.2020 durch die Meldebehörde von Amts wegen abgemeldet worden waren. Die Töchter waren vorher in Y-Stadt unter den Adressen Straße 04 ( T1 ) bzw. Straße 03 ( T2 ) gemeldet gewesen.
Hierauf hob die Familienkasse zunächst die laufende Kindergeldgewährung ab Juli 2020 auf (Bescheid vom 3.06.2020); später hob die Familienkasse auch rückwirkend die Kindergeldfestsetzung ab Juli 2019 für T1 und ab Dezember 2019 für T2 auf und forderte 3.876 € an gezahltem Kindergeld zurück (Bescheid vom 30.06.2020). Beide Bescheide wurden jeweils mit einfachem Brief an die frühere Adresse Straße 03 versandt.
Im Februar 2021 beantragte die Klägerin bei der Familienkasse erneut Kindergeld für die Töchter. Sie erklärte, sie wohne in Y-Stadt , Straße 05 . Die Klägerin legte u. a. vor:
- Anmeldebestätigungen der Stadt Y , wonach sich die Klägerin und die Töchter am 25.01.2021 unter der Adresse Straße 05 in Y-Stadt angemeldet haben, und zwar mit dem Einzugsdatum 1.01.2021;
- Auszüge aus einem Mietvertrag vom 28.12.2020, den die Klägerin über die Wohnung Straße 05 (1.OG rechts, ca. 65 m²) abgeschlossen hatte;
- eine handschriftliche Erklärung, dass die Klägerin keine Arbeit habe, weil sie kleine Kinder zu Hause betreuen müsse.
Die Familienkasse lehnte den Antrag auf Kindergeldgewährung für die beiden Töchter für den Zeitraum Februar bis April 2021 ab (Bescheid vom 10.03.2021). Zur Begründung wurde ausgeführt, in Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union könnten nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nur dann Kindergeld erhalten, wenn sie laufende inländische Einkünfte z. B. aus nichtselbständiger Arbeit erzielten. Diese Anspruchsvoraussetzungen könnten nicht festgestellt werden.
Hiergegen erhob die Klägerin, fachkundig vertreten, Einspruch. Sie reichte weitere Unterlagen ein:
- Nachweis der Zuteilung einer Steueridentifikationsnummer für beide Töchter;
- AOK-Gesundheitskarten für sich und die beiden Töchter.
Die Stadt Y (Jobcenter ...) machte einen Erstattungsanspruch auf Kindergeldauszahlungen für beide Kinder geltend, weil sie der Klägerin Leistungen nach dem SGB II gewährte.
Die Familienkasse wies den Einspruch als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 25.05.2021). Zur Begründung verwies die Familienkasse auf die (ab August 2019 gültige) Vorschrift des § 62 Abs. 1 a des Einkommensteuergesetzes (EStG) i. V. m. § 2 Abs. 2 des Freizügigkeitsgesetzes/ EU (FreizügG/EU). Hiergegen war das Klageverfahren 9 K 1520/21 Kg anhängig; dieses Verfahren ist inzwischen nach Abhilfe der Behörde für die Monate Februar und März 2021 beendet worden; die Klage wegen April 2021...