vorläufig nicht rechtskräftig
Revision zugelassen durch das FG
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch von EU-Ausländern ab dem 4. Monat der Einreise: Rechtmäßiger Aufenthalt im Inland – Arbeitnehmerfreizügigkeit – Fortwirken der Arbeitnehmereigenschaft während des Erziehungsurlaubs – Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004
Leitsatz (redaktionell)
Der für den Kindergeldanspruch einer wirtschaftlich nicht aktiven EU-Ausländerin ab dem 4. Monat der Einreise vorauszusetzende rechtmäßige Aufenthalt im Inland folgt – über den Wortlaut der Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG i.V.m. §§ 2 - 4 FreizügG/ EU hinausgehend - unmittelbar aus dem europäischen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004, wenn sie sich nach vorausgegangener Berufstätigkeit, kurzer Arbeitslosigkeit und anschließender Mutterschutzzeit im Erziehungsurlaub befindet und daher weiterhin als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt ist (entgegen Urteil des VG Darmstadt vom 1.12.2016 5 K 475/15.DA, ZESAR 2017, 350).
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 a S. 3; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 S. 2; EGV 883/2004 Art. 4; AEUV Art. 18, 21, 45; RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 3
Tatbestand
Im Mai 2021 beantragte die Klägerin, eine polnische Staatsbürgerin, für ihre Tochter T (geboren im April 2021) bei der Beklagten (im folgenden: Familienkasse) Kindergeld. Der im gleichen Haushalt wohnende Lebensgefährte/ Verlobte und Kindesvater, ebenfalls polnischer Staatsbürger, stimmte der Kindergeldgewährung an die Klägerin zu. Die Klägerin legte u. a. vor :
- die Geburtsurkunde der Tochter (in Kopie);
- eine Anmeldebestätigung der Stadt Z , wonach sich die Klägerin im September 2019 unter der Adresse Straße 01 angemeldet und im Februar 2020 an die Adresse Straße 02 umgemeldet hatte, wo auch die Tochter seit Geburt gemeldet ist;
- entsprechende Meldebestätigungen des Lebensgefährten;
- einen Mietvertrag über die Wohnung Straße 02 ;
- die Erklärung, dass die Klägerin von 14.10.2019 bis 30.09.2020 bei der A GmbH beschäftigt gewesen ist;
- sowie das Kündigungsschreiben des Arbeitsvertrags vom 26.08.2020 zum 30.09.2020;
- den Nachweis über den Bezug von SGB-II-Leistungen durch das Jobcenter…der Stadt Z seit April 2021.
Die Stadt Z meldete einen Erstattungsanspruch auf das Kindergeld an.
Die Familienkasse lehnte die Kindergeldfestsetzung ab (Bescheid vom 30.07.2021). Zur Begründung hieß es, in Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union könnten ab dem vierten Monat nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nur dann Kindergeld erhalten, solange die Familienkasse die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes/EU (im Folgenden: FreizügG/EU) als erfüllt ansehe. Die Familienkasse habe hier ein eigenes Prüfungsrecht, das unabhängig von der Entscheidung der Ausländerbehörde bestehe. Die Prüfung habe ergeben, dass diese Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 oder 3 FreizügG/EU nicht erfüllt seien.
Hiergegen erhob die Klägerin Einspruch und erklärte, sie könne die Ablehnung nicht nachvollziehen. Sie wies darauf hin, dass sie für T seit April 2021 laufend Elterngeld erhalte (Bescheid der Stadt Z vom 23.09.2021).
Die Familienkasse wies daraufhin den Einspruch als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 27.10.2021, zur Post gegeben am 29.10.2021). Zur Begründung verwies die Familienkasse auf die Vorschrift des § 62 Abs. 1 a des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 2 Abs. 2 FreizügG/EU. In Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union könnten ab dem vierten Monat nach Begründung des Wohnsitzes in Deutschland nur Kindergeld erhalten, solange die Familienkasse die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des FreizügG/EU als erfüllt ansehe. Im Streitfall seien die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 oder 3 FreizügG/EU nicht erfüllt: hiernach bestehe ab dem 4. Monat der Einreise ein Kindergeldanspruch bei Erwerbstätigkeit oder Fortwirken der Arbeitnehmereigenschaft sowie bei nicht erwerbstätigen Personen mit ausreichenden Existenzmitteln und Krankenversicherungsschutz. Keinen Anspruch ab dem 4. Monat hätten dagegen Personen, die SGB II-Leistungen beziehen, freiwillig arbeitslos bzw. nicht erwerbstätig und dabei ohne ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz sind. Die Klägerin lebe von Leistungen nach dem SGB II und von Elterngeld; Nachweise über eine Arbeitsplatzsuche bzw. die Unfreiwilligkeit ihrer Arbeitslosigkeit habe sie nicht vorgelegt.
Hiergegen richtet sich die Klage. Die Klägerin trägt vor, dass sie ca. 1 Jahr lang (Oktober 2019 bis September 2020) berufstätig gewesen ist, danach schwanger, in Mutterschutz und in Elternzeit. Der Lebensgefährte der Klägerin habe ebenfalls bis September 2020 (bei demselben Arbeitgeber) gearbeitet, sei allerdings im Anschluss arbeitslos geblieben und habe wegen seiner Schwerbehinderung keine neue Arbeitsstelle gef...