Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch für behindertes Kind
Leitsatz (redaktionell)
Der Anspruch auf Kindergeld für ein wegen seiner Behinderung voll stationär untergebrachtes Kind setzt nicht voraus, dass die Eltern im Einzelfall feststellbare Unterhaltsleistungen in Form von Bar-, Sach- oder Betreuungsleistungen erbringen.
Normenkette
EStG § 31 Abs. 2, § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3, § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1
Tatbestand
Streitig ist der Kindergeldanspruch bzw. der Anspruch auf Abzweigung von Kindergeld für die beiden am 24.01.1977 geborenen Kinder des Beigeladenen. Die Kinder sind behindert (GdB 80) und deshalb stationär untergebracht. Die Klägerin gewährt für die Kinder Eingliederungshilfe. Sie verfügen mit Ausnahme des ihnen gewährten Taschengeldes nicht über eigene Einkünfte oder Bezüge.
Mit Bescheid (Zahlungsanweisung) vom 31.03.1998 setzte die Beklagte gegenüber dem Beigeladenen Kindergeld für beide Kinder ab September 1997 in gesetzlicher Höhe fest und verfügte zugleich die Auszahlung an die Klägerin. Sie folgte damit dem für beide Kinder getrennt gestellten Antrag der Klägerin vom 3.3.1998.
Mit den Nullfestsetzungs-Bescheiden vom 27.05.1998 änderte die Beklagte die Kindergeldfestsetzung gem. § 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab Juni 1998, weil sie nach ihrer damaligen Rechtsauffassung davon ausging, dass die Kinder aufgrund der ihnen gewährten Eingliederungshilfe in der Lage seien, sich selbst zu unterhalten. Die Klägerin erhielt jeweils eine Kopie des Änderungsbescheides.
Gegen die Bescheide legten sowohl die Klägerin als auch der Beigeladene fristgerecht Einspruch ein. Während des Rechtsbehelfsverfahrens wiederholte die Klägerin mit Schreiben vom 1.7.1998 den bereits mit dem Schreiben vom 3.3.1998 gestellten Kindergeld- und Kindergeldüberleitungsantrag. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17.7.1998 ab. Hiergegen wandte sich die Klägerin mit dem als "Widerspruch" bezeichneten Einspruch vom 21.8.1998. Die Beklagte wies den Einspruch des Beigeladenen mit der Einspruchsentscheidung vom 17.07.1998 zurück. Der "Widerspruch" der Klägerin wurde mit dem Bescheid vom 24.09.1998 zurückgewiesen. Dieser Bescheid ist mit der Rechtsbehelfsbelehrung versehen, dass die Klage zum Finanzgericht eröffnet ist.
Am 06.10.1998 erhob die Klägerin getrennt für beide Kinder Klage. Das Gericht hat die Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und den Kindergeldberechtigten beigeladen.
Die Klägerin hält die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und die Ablehnung der Abzweigung des Kindergeldes für rechtswidrig.
Sie beantragt, den Kindergeldaufhebungsbescheid vom 27.05.1998 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf die von ihr eingeholte Stellungnahme des Bundesamts für Finanzen vom 14.02.2002 und hält daran fest, dass weder ein Anspruch des Beigeladenen auf Kindergeldfestsetzung noch ein solcher der Klägerin auf Abzweigung oder Erstattung des Kindergeldes bestehe.
Der Anspruch auf steuerliche Entlastung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG setze voraus, dass der Kindergeldberechtigte tatsächlich einen fehlenden Anteil des existenziellen Unterhaltsbedarfs eines behinderten Menschen in Form von Bar-, Sach- oder Betreuungsleistungen sicherstelle. Ausschließlich in diesen Fällen sei er durch eine Kindergeldfestsetzung wirtschaftlich zu entlasten. Dieser Intention des Gesetzgebers entsprächen auch die Urteile des Bundesfinanzhofes (BFH vom 14.06.1996 III R 13/94, BStBl. II 1997, 173 und vom 15.10.1999 VI R 183/97, BStBl. II 2000, 72 und VI R 40/98, BStBl. II 2000, 75 sowie VI R 182/98, BStBl. II 2000, 79). Ein Kindergeldanspruch sei demgemäß zu verneinen, wenn die Eltern nicht zur Sicherung des existenziellen Grundbedarfs beitragen (BFH-Urteil vom 15.10.1999, VI R 182/92, BStBl. II 2000, 79). Im Streitfall seien die Eltern nicht mit der Erbringung eigener Bar- Sach- oder Betreuungsleistungen an der Sicherung des existenziellen Lebensunterhalts beteiligt. Die Berechtigten seien damit durch die Sicherstellung des existenziellen Lebensbedarfs der Kinder nicht wirtschaftlich belastet und ihre steuerliche Freistellung im Rahmen des Familienleistungsausgleichs nach § 31 EStG nicht erforderlich.
In den Urteilen vom 15.10.1999 gehe der BFH nunmehr davon aus, dass der Sozialträger auch bei vollstationärer Unterbringung nicht den existenziellen Unterhaltsbedarf eines behinderten Kindes sichere. Der ungesicherte Bedarf werde immer durch den Berechtigten erbracht. Diesem entstehe damit eine Belastung, welche mit der Festsetzung von Kindergeld zu mindern ist. Abzweigungsanträge von Sozialträgern seien demnach grundsätzlich abzulehnen.
Nach dem Entwurf einer Neufassung der DA 74.1 DA-FamEStG gelte für Zeiträume bis zum 31.12.2001 Folgendes: Der beantragende Sozialhilfeträger hat nachvollziehbare Angaben zum Umfang der elterlichen Unterhaltspflicht und darüber zu machen, ob und in welchem Umfang die Eltern keinen oder nur Unterhalt leisten, der geringer ist, als das auszuzahlen...