Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung von Verfahrenserklärungen

 

Leitsatz (redaktionell)

Bei nicht eindeutigen und zweifelsfreien Erklärungen hat das Finanzamt den wirklichen Willen des Steuerpflichtigen durch Auslegung zu ermitteln und dabei zu berücksichtigen, dass der Steuerpflichtige denjenigen Verwaltungsakt anfechten will, der angefochten werden muss, um zu dem erkennbar angestrebten Erfolg zu kommen. Dies gilt - in entsprechender Anwendung des § 133 BGB - auch für außerprozessuale Verfahrenserklärungen rechtskundiger Personen, sofern die Verfahrenserklärung auslegungsbedürftig ist und nicht nach Wortlaut und Zweck einen eindeutigen Inhalt hat.

 

Normenkette

AO 1977 § 357 Abs. 1 S. 4; BGB § 133; AO 1977 § 357 Abs. 1

 

Nachgehend

BFH (Beschluss vom 08.12.2003; Aktenzeichen X R 15/02)

BFH (Beschluss vom 08.12.2003; Aktenzeichen X R 15/02)

 

Tatbestand

Mit Bescheid vom 28.01.1999 setzte der Beklagte (das Finanzamt – FA –) gegen die Kläger – zusammen zu veranlagende Eheleute – Einkommensteuer für das Streitjahr 1997 in Höhe von 50.564 DM als Jahressteuerschuld im Schätzungswege fest (§ 162 der AbgabenordnungAO –) und forderte darin durch Leistungsgebot Einkommen- und Kirchensteuer sowie Solidaritätszuschlag im Gesamtbetrag von 43.874,24 DM an. Der Bescheid, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird, wurde dem damaligen Steuerberater der Kläger als deren Empfangsbevollmächtigtem bekanntgegeben. In einem am letzten Tag der für den erlassenen Steuerbescheid maßgebenden Rechtsbehelfsfrist (1. März 1999) dem Beklagten per Fax übermittelten Schreiben beantragte der Bevollmächtigte, „die nachträglichen Einkommensteuervorauszahlungen 1997” der Kläger „auf 0,– DM festzusetzen”. Zur Begründung machte der Bevollmächtigte unter Hinweis auf eine dem Schreiben beigefügte betriebswirtschaftliche Auswertung geltend, daß die Klägerin in ihrem Unternehmen „Reisen…….Konferenzen” einen voraussichtlichen Verlust in Höhe von 40.838,12 DM werde hinnehmen müssen, so daß „nicht von einer Steuernachzahlung auszugehen” sei, zumal die Einkünfte des Klägers (Ehemann) dem Lohnsteuerabzug unterlegen hätten. Bis zur Änderung des Vorauszahlungsbescheids werde eine „Aussetzung der Vollziehung” beantragt.

Mit Schreiben vom 22.03.1999 begehrte der damalige Bevollmächtigte der Klägerin sodann beim Beklagten die Aussetzung der Vollziehung der mit Einkommensteuerbescheid vom 28.01.1999 angeforderten Beträge und verwies zur Begründung auf eine erstellte Steuerberechnung sowie auf die zwischenzeitlich dem Beklagten übersandte Steuererklärung, die ausweislich der Steuerakten den Eingangsstempel des FA vom 08.04.1999 trägt.

In Schreiben vom 24.03. und 15.04.1999 lehnte der Beklagte den vorläufigen Rechtsschutz ab, weil ein rechtzeitig eingelegter Rechtsbehelf gegen den Jahrenssteuerbescheid 1997 nicht vorliege. Es sei lediglich innerhalb der Rechtsbehelfsfrist des Jahressteuerbescheids ein eindeutiger Antrag auf Herabsetzung nachträglicher Vorauszahlungen für das Streitjahr gestellt worden, der aber im Hinblick darauf als gegenstandslos betrachtet werde, daß nach Aktenlage ein solcher Bescheid nicht ergangen sei. Eine Umdeutung des Herabsetzungsbegehrens in einen Einspruch gegen den Jahressteuerbescheid sei nicht möglich, weil eine solche Zielrichtung des Begehrens nicht erkennbar sei.

Gegen diese Rechtsauffassung des Beklagten wenden sich die Kläger mit der am 01.10.1999 gemäß § 46 der Finanzgerichtsordnung – FGO – erhobenen Untätigkeitsklage, nachdem der Beklagte bis zu diesem Zeitpunkt nicht über den Einspruch sachlich entschieden hatte. Sie tragen im wesentlichen vor, bei der nach § 357 Abs. 1 Satz 4 AO verfahrensrechtlich zwingend vorgeschriebenen Auslegung von Erklärungen mit nicht eindeutigem Erklärungsinhalt könne das Schreiben des damaligen Beraters vom 01.03.1999 mit seinem zweifellos daraus hervorgehenden Erklärungswillen und verbunden mit den tatsächlichen Begleitumständen nur als Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1997 ausgelegt werden. Denn nur auf diese Weise sei dem erkennbaren Willen, die steuerlichen Folgen der Schätzung zu beseitigen, Rechnung zu tragen. Nach dem „Meistbegünstigungsgrundsatz” sei das materielle Begehren des Steuerpflichtigen unabhängig von einer formalen Bezeichnung dahingehend zu verstehen, daß der Antrag gestellt sei, der verfahrensrechtlich zum Erfolg führen könne.

Die Kläger beantragen zunächst,

gemäß § 99 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung, die Zulässigkeit des Einspruchs gegen den Einkommensteuerbescheid 1997 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen, weil die Entscheidung bei Stattgabe in Divergenz zu den Urteilen des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 01.09.1998 VIII R 46/93, BFH/NV 1999, 596, BFH/NV 2000, 341 u. 447 stehen würde.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Schriftwechsel der Beteiligten ergänzend Bezug genommen. Eine Rechtsbehelfsentscheidung des Beklagten ist bis zum heutigen Tage nicht ergangen.

 

Entscheidungsgründe

1. Die...

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