Entscheidungsstichwort (Thema)
Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 AO
Leitsatz (redaktionell)
1) Gemäß § 171 Abs. 10 Satz 3 AO löst ein Grundlagenbescheid (hier: Feststellung einer Behinderung) dann keine Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 Satz 1 AO für den Folgebescheid (hier: Einkommensteuerbescheid) aus, wenn der Grundlagenbescheid, auf den § 181 AO nicht anzuwenden ist, nicht vor Ablauf der für den Folgebescheid geltenden Festsetzungsfrist bei der zuständigen Behörde beantragt worden ist.
2) Die rückwirkende Anwendung von § 171 Abs. 10 Satz 3 AO durch Art. 97 § 10 Abs. 12 EGAO ist verfassungsrechtlich unbedenklich.
Normenkette
AO § 171 Abs. 10
Tatbestand
Die Beteiligten streiten, ob der Beklagte die von der Klägerin begehrte Änderung der Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1994 bis 2002 (Streitjahre) zu Recht unter Hinweis auf den Eintritt der Festsetzungsverjährung abgelehnt hat oder ob durch die Bekanntgabe des Grundlagenbescheids über die Schwerbehinderung der Klägerin im Jahr 2011 die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 Satz 1 AO eingetreten ist.
Die am ….1972 geborene, ledige Klägerin wurde für die Streitjahre durch den Beklagten zur Einkommensteuer veranlagt und zwar mit den Bescheiden vom 3.5.1996 für 1995, 2.5.1997 für 1996, 16.4.1998 für 1997, 30.3.1999 für 1998, 9.3.2000 für 1999, 7.9.2001 für 2000, 4.4.2002 für 2001 und 28.3.2003 für 2002. Für 1994 sind die Daten bereits gelöscht. Zugrunde lagen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zwischen rund 44.000 DM bzw. 22.000 € und im Jahr 1996 Lohnersatzleistungen von etwa 14.000 DM. Eine Behinderung im Sinne des § 33b EStG war von der Klägerin nicht erklärt worden. Alle Bescheide ergingen aus für den Streitfall nicht interessierenden Gründen nach § 165 Abs. 1 AO vorläufig und wegen der übrigen Besteuerungsgrundlagen endgültig. Sie blieben unangefochten.
Am 4.12.2009 beantragte die Klägerin bei der Stadt A die Feststellung einer Schwerbehinderung. Dieser stellte mit Bescheid vom 12.3.2010 gestützt auf § 69 SGB IX fest, dass bei der Klägerin ab Antragseingang der Grad der Behinderung (GdB) 30 betrage und eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit vorliege. Durch den Bescheid stellte die Stadt A in analoger Anwendung von § 6 Abs. 1 Satz 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) ferner fest, dass bei der Klägerin bereits im Zeitraum vom 1.12.2006 bis 3.12.2009 der GdB 30 betragen habe. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein.
Den Bescheid der Stadt A vom 12.3.2010 übersandte die Klägerin an den Beklagten, der daraufhin am 19.4.2010 bzw. 2.9.2010 die Einkommensteuerbescheide für 2006 bis 2009 gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO änderte und zugunsten der Klägerin jeweils die für den GdB von 30 vorgesehenen Behinderten-Pauschbeträge nach § 33b EStG berücksichtigte.
Nach einer erneuten ärztlichen Untersuchung der Klägerin erließ die Stadt A am 27.1.2011 einen Abhilfebescheid, durch den er feststellte, dass der GdB ab 4.12.2009 70 betrage und die Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B erfülle. Ihr stehe ein Schwerbehindertenausweis zu, durch den sie für den Zeitraum vom 1.12.2006 bis 3.12.2009 den GdB 50 und das Merkzeichen G nachweisen könne. Hierauf stellte die Klägerin unter dem 26.2.2011 einen weitergehenden Antrag. Unter Bezugnahme darauf und als ausdrückliche „Ergänzung des Bescheids vom 27.1.2011” erteilte die Stadt A der Klägerin unter dem 29.4.2011 eine Bescheinigung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAwV, wonach der GdB 50 bei der Klägerin bereits ab 1.3.1994 vorgelegen hat. Ihren Widerspruch hielt die Klägerin gleichwohl aufrecht.
Die Klägerin behauptet, sie habe die Bescheinigung vom 29.4.2011 „Mitte Mai 2011” an den Beklagten gesandt. Dieser hat seinen Aktenbestand überprüft, konnte aber den Eingang der Bescheinigung nicht bestätigen. Das Gericht hat von der Bescheinigung erst durch deren Vorlage im Klageverfahren erfahren.
Am 6.11.2011 wies die Bezirksregierung B den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid der Stadt A vom 12.3.2010 unter Einbeziehung des Abhilfebescheids vom 27.1.2011 zurück. Die Klägerin hat darauf Klage beim Sozialgericht A erhoben. Dort machte die Stadt A unter dem 10.12.2012 das Angebot, ab 1.4.2012 den GdB mit 80 und ab 1.11.2012 mit 100 unter Einschluss des Merkzeichens „aG” festzustellen, wenn die Klägerin den Rechtsstreit damit als erledigt ansehe. Dem stimmte die Klägerin am 15.4.2013 zu.
Unter dem 16.4.2013 stellte die Klägerin beim Beklagten einen Antrag auf Änderung der Steuerbescheide ab 1994. Sie führte aus, bei ihr sei rückwirkend ab diesem Jahr eine Schwerbehinderung festgestellt worden. Aktuell sei damit allerdings noch das Sozialgericht beschäftigt. Den Abschluss des Klageverfahrens erwarte sie in den kommenden Wochen. Der Beklagte möge ihr mitteilen, wie weit rückwirkend die Steuerbescheide abgeändert werden könnten und welche Unterlagen er für diese Änderung benötige. Der Beklagte erwiderte mit Schreiben vom 22.5.2013, dass eine Änderung erst erfolgen könne, w...