Entscheidungsstichwort (Thema)
Ernstliche rechtliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen nach § 237 AO, § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ab 1.1.2019
Leitsatz (redaktionell)
1. Es ist ernstlich zweifelhaft, ob es verfassungskonform ist, dass der Gesetzgeber aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für den Verzinsungstatbestand des § 233a AO in § 238 Abs. 1a AO ab 1.1.2019 eine Neuregelung (Zweites Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 12.7.2022, BGBl 2022 I S. 1142) getroffen hat, wonach abweichend von § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ab dem 1.1.2019 der Zinssatz für eine Verzinsung nach § 233a AO lediglich 0,15 % für jeden Monat, das heißt 1,8 % für jedes Jahr beträgt, dass jedoch der Zinssatz für Aussetzungszinsen nach § 237 AO, § 238 Abs. 1 Satz 1 AO auch ab 1.1.2019 weiter unverändert 0,5 % monatlich bzw. 6 % jährlich beträgt.
2. Der Umstand, dass eine Verzinsung nach § 237 AO regelmäßig auf einen Antrag des Steuerpflichtigen zurückgeht, kann eine über das allgemeine Zinsniveau hinausgehende Verzinsung in Aussetzungsfällen verfassungsrechtlich nicht ohne weiteres legitimieren (FG Münster, Urteil v. 8.3.2023, 6 K 2094/22 E, Revision anhängig, Az beim BFH VIII R 9/23).
3. Ein über dem allgemeinen Zinsniveau liegender Zinssatz bei den Aussetzungszinsen kann auch nicht durch Verweis auf den Zweck, unnötige Prozesse vermeiden zu wollen, gerechtfertigt werden.
Normenkette
AO § 233 S. 1, §§ 233a, 237 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, § 238 Abs. 1 S. 1, Abs. 1a, 2, § 239 Abs. 2; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4; FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1
Tenor
1. Der Bescheid über Aussetzungszinsen nach § 237 Abgabenordnung (AO) vom 6. April 2023 wird für die Dauer des Einspruchsverfahrens i.H.v. … EUR von der Vollziehung ausgesetzt.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
2. Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragstellerin zu 3/4 und der Antragsgegner zu 1/4.
3. Die Beschwerde zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes von Aussetzungszinsen nach § 237 AO.
Die Antragstellerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) mit Sitz in …. Gegenstand ihres Unternehmens ist …
Der Antragstellerin wurden zunächst auf Antrag Zulagen nach dem Investitionszulagengesetz 2005 (InvZulG 2005) für das Wirtschaftsjahre 2004/2005 (Bescheid vom …) und für das Wirtschaftsjahr 2005/2006 (Bescheid vom …) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gewährt.
Nach Durchführung einer Außenprüfung wurden jeweils mit Bescheid vom … 2012 diese Festsetzungen von Investitionszulagen wieder aufgehoben, da die Verbleibensvoraussetzungen nicht erfüllt worden seien. Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom … 2017). Auch die hiergegen beim Finanzgericht München erhobene Klage (…) blieb ohne Erfolg (Urteil vom … 2022). Eine daraufhin beim Bundesfinanzhof (BFH) angestrengte Nichtzulassungsbeschwerde (…) wurde als unzulässig verworfen (Beschluss vom … 2023).
Während des anhängigen Einspruchs- und Klageverfahren wurde Aussetzung der Vollziehung gewährt (Verwaltungsakte vom … 2013 bzw. … 2017). Ein weiterer Antrag auf Aussetzung der Vollziehung während des anhängigen Beschwerdeverfahrens beim BFH wurde zunächst mit Verwaltungsakt vom … 2022 abgelehnt. Auf Einspruch hin wurde mit Verwaltungsakt vom … 2022 die Aussetzung der Vollziehung gegen Sicherheitsleistung gewährt. Die Aussetzung war bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde (Zustellung am … März 2023) befristet.
Mit Bescheid vom 6. April 2023 setzte der Antragsgegner (Finanzamt) daraufhin Aussetzungszinsen gemäß 237 AO i.H.v. … EUR fest. Hiergegen legte die Antragstellerin Einspruch ein, über den noch nicht abschließend entschieden wurde. Er ruht nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO im Hinblick auf das anhängige Revisionsverfahren VIII R 9/23.
Ein daneben gestellter Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wurde abgelehnt (Bescheid vom 20. Juni 2023). Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb ebenfalls ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 1. Dezember 2023).
Im vorliegenden gerichtlichen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes macht die Antragstellerin geltend, dass die Frage der Verfassungskonformität der Höhe der Aussetzungszinsen noch nicht höchstrichterlich geklärt sei. Das Finanzamt habe nicht berücksichtigt, dass der VIII. Senat des BFH in den Beschlüssen vom 3. September 2018 (VIII B 15/18, BFH/NV 2018, 1279) und vom 4. Juli 2019 (VIII B 128/18, BFH/NV 2019, 1060) erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Höhe des Zinssatzes für die Aussetzungszinsen in Höhe von 6 Prozent p.a. formuliert habe. Auch nach Ergehen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 8. Juli 2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BGBl I 2021, 4303) zur Verfassungswidrigkeit von Nachzahlungszinsen nach § 233a AO gebe es keine anderweitige Beschlusslage des VIII. Senats oder e...