Entscheidungsstichwort (Thema)
DBA-Schweiz: Konsultationsvereinbarungsverordnung-Schweiz genügt nicht den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts nach Art. 20 Abs. 3 GG, § 18 Abs. 2 KonsVerCHEV nicht europarechtswidrig. Berücksichtigung des Heiratsprivilegs nach § 18 Abs. 2 KonsVerCHEV nicht im Steuerfestsetzungsverfahren, sondern einem gesonderten Billigkeitsverfahren
Leitsatz (redaktionell)
1. Da § 2 Abs. 2 AO (i.d.F. des JStG 2010) nicht die Bestimmtheitsanforderungen erfüllt, die nach Art. 80 Abs. 1 GG an eine Verordnungsermächtigung zu stellen sind, genügt die Verordnung zur Umsetzung von Konsultationsvereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft – Deutsch-Schweizerische Konsultationsvereinbarungsverordnung – vom 20.12.2010 (BGBl 2010 I S. 2187 – KonsVerCHEV –) nicht den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts nach Art. 20 Abs. 3 GG. Das betrifft nicht nur § 24 Abs. 1 KonsVerCHEV und § 9 Abs. 1 KonsVerCHEV, sondern auch, die den Wegzug in die Schweiz wegen Heirat mit einer Person schweizerischer Staatsangehörigkeit regelnde, begünstigende Vorschrift des § 18 Abs. 2 KonsVerCHEV (Anschluss an BFH, Urteil v. 10.6.2015, I R 79/13, BStBl 2016 II S. 326 betreffend § 24 Abs. 1 KonsVerCHEV und BFH, Urteil v. 30.5.2018, I R 62/16, BFH/NV 2019 S. 62 betreffend § 9 Abs. 1 KonsVerCHEV; entgegen BMF, Schreiben v. 31.3.2016, BStBl 2016 I S. 471).
2. Art. 4 Abs. 4 DBA-Schweiz ist nicht europarechtswidrig (vgl. EuGH, Urteil v. 19.11.2015, C-241/14, BStBl 2017 II S. 238).
3. Zieht eine mehr als fünf Jahre unbeschränkt steuerpflichtige deutsche Staatangehörige im Jahr der Heirat mit einem Schweizer Staatsangehörigen in die Schweiz um und ist sie als Grenzgängerin weiter bei einem inländischen Arbeitgeber angestellt, so steht nach Art. 4 Abs. 4 Satz 1 DBA-Schweiz Deutschland das Besteuerungsrecht auch für die nach dem Umzug erzielten Einkünfte weiter zu. Das in § 18 Abs. 2 KonsVerCHEV als sog. Heiratsprivileg zum Ausdruck gebrachte Abkommensverständnis wird nicht durch den Wortlaut des Art. 4 Abs. 4 DBA-Schweiz gedeckt und ist deshalb für eine Änderung der Besteuerungsbefugnisse eines DBA nicht verbindlich.
4. Mangels Verbindlichkeit des auf einer nicht hinreichenden Verordnungsermächtigung beruhenden § 18 Abs. 2 KonsVerCHEV kann dieser nur als Billigkeitsregelung gewertet werden. Die Anwendung von Billigkeitsregelungen kann indessen nicht Gegenstand des Steuerfestsetzungsverfahrens sein, sondern nur in einem hiervon zu unterscheidenden Verfahren gemäß § 163 oder § 227 AO verfolgt werden.
Normenkette
DBA CHE Art. 4 Abs. 4 S. 1, Art. 15a Abs. 2; KonsVerCHEV § 18 Abs. 2; AO § 163 S. 1, §§ 227, 2 Abs. 2 S. 1, § 2 Ab S. 2, § 5; GG Art. 20 Abs. 3, Art. 80 Abs. 1 S. 1, Art. 80 Ab S. 2; EStG § 1 Abs. 1, 4, § 49 Abs. 1 Nr. 4
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob die Einkünfte der Klägerin aus einer nichtselbständigen Arbeit in Deutschland nach ihrem Wegzug in die Schweiz im Jahr 2012 der deutschen Besteuerung unterliegen.
Die (seit Mai 2012 verheirateten) Kläger beziehen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Deutschland und aus Vermietung und Verpachtung eines in Deutschland belegenen Objekts. Sie verlegten ihren Wohnsitz am 17. August 2012 nach S in der Schweiz.
Der Kläger, ein Schweizer Staatsangehöriger, war auch nach dem Umzug bis zum Jahresende für den bisherigen Arbeitgeber, die Firma T in A, tätig. Die Klägerin wurde zum 1. August 2012 an das Gymnasium L versetzt. Der erste reguläre Arbeitstag nach den Ferien war der 12. September 2012, an dem die Lehrerkonferenz stattfand. Ab dem 13. September 2012 war die Klägerin bis zum Beginn des Mutterschutzes am 1. Oktober 2012 krankgeschrieben. In Deutschland wurde für die Monate August bis Dezember 2012 Lohnsteuer i.H.v. 4,5 % des Bruttolohns einbehalten.
Mit Bescheid vom 31. März 2015 setzte der Beklagte (das Finanzamt – FA –) die Einkommensteuer 2012 der Kläger auf 18.484 EUR fest. Dabei ging es – abweichend von der Steuererklärung der Kläger – davon aus, dass die Grenzgängerregelung des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11. August 1971 (BGBl II 1972, 1022; BStBl I 1972, 519) i.d.F. des Protokolls vom 27. Oktober 2010 (BGBl II 2011, 1092, 2012, 279; BStBl I 2012, 513, 516) – DBA-Schweiz – auf die Kläger nicht anwendbar sei.
Dagegen legten die Kläger Einspruch ein und trugen zunächst vor, die einbehaltene Pauschalsteuer i.H.v. 4,5 % sei nach § 36 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG) anzurechnen; später machten sie geltend, beim Kläger seien weitere Vorsorgeaufwendungen zu berücksichtigen.
Mit nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) geändertem Bescheid vom 14. Dezember 2015 wurde die Einkommensteuer 2012 auf 16.911 EUR herabg...