Entscheidungsstichwort (Thema)
Örtliche Zuständigkeit für den Erlass von Vollstreckungsmaßnahmen und pflichtgemäße Ermessensausübung
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Vollstreckungsbehörde hat bei Erlass von Vollstreckungsmaßnahmen im Rahmen ihrer Ermessensausübung zu prüfen, ob eine Vollstreckung überhaupt durchgeführt werden soll und ob hierbei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wird. Eine Verpflichtung zur Vollstreckung besteht grundsätzlich nicht. Werden dem Betroffenen die für die Entscheidungsfindung maßgebenden Ermessenserwägungen nicht in überprüfbarer Form mitgeteilt, begründet dies einen Ermessensfehler.
2. Bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit gemäß § 26 Satz 1 AO setzt die Fortführung eines Verwaltungsverfahrens durch die bisher zuständige Finanzbehörde voraus, dass die nunmehr zuständige Finanzbehörde gemäß § 26 Satz 2 AO zugestimmt hat und diese Zustimmung aktenkundig ist. Das fortgeführte Verwaltungsverfahrens muss bereits begonnen haben, bevor der Zuständigkeitswechsel eintritt. Dabei sind Festsetzungsverfahren einerseits und Erhebungsverfahren andererseits als selbstständige Verwaltungsverfahren im Sinne von § 26 Satz 2 AO anzusehen.
Normenkette
AO §§ 11, 20 Abs. 1-2, § 26 S. 2, § 249 Abs. 1 S. 1, § 251 Abs. 1, § 257 Abs. 1, §§ 308, 314; FGO § 69 Abs. 2 S. 2; AO § 5
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten über die örtliche Zuständigkeit für den Erlass von Pfändungs- und Einziehungsverfügungen sowie über die pflichtgemäße Ermessensausübung.
Die Antragstellerin ist eine … Aktiengesellschaft, die im Handelsregister des Amtsgerichts A unter HRB 1 eingetragen ist. Sie firmierte ursprünglich als X AG. Mit Beschuss der Hauptversammlung vom … änderte sie ihre Firma in O AG. Das gezeichnete Kapital hält zu 90 % Herr Steuerberater M, der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin. Dieser war ursprünglich auch Vorstand der Antragstellerin, wurde aber am … als Vorstand abberufen.
Geschäftsanschrift der Antragstellerin war seit dem …2013 (lt. Eintragung im Handelsregister) die Anschrift A-Straße 1 in R. Am ….2019 wurde als neue Geschäftsanschrift die Anschrift B-Straße 2 in U im Handelsregister eingetragen. Zum Vorstand wurde zu demselben Zeitpunkt Herr G bestellt. …
Tochtergesellschaft der Antragstellerin war aufgrund einer Anteilseinbringung vom …2010 die … X GmbH (eingetragen im Handelsregister des Amtsgerichts R unter HRB 2). Mit Verschmelzungsvertrag vom …2014 wurde die X GmbH rückwirkend auf den 31.12.2013 auf die Antragstellerin verschmolzen. Die Verschmelzung wurde am …2015 in das Handelsregister des übertragenden Rechtsträgers und am …2015 in das Handelsregister des übernehmenden Rechtsträgers eingetragen.
Zwischen den Beteiligten war die für die X GmbH festzusetzende Körperschaftsteuer des Jahres 2013 streitig. Der Antragsgegner setzte mit Bescheid vom 29.8.2018 gegenüber der X AG als Gesamtrechtsnachfolgerin der X GmbH die Körperschaftsteuer 2013 auf X € und den Solidaritätszuschlag zur Körperschaftsteuer 2013 auf X € fest. Die Körperschaftsteuer und der Solidaritätszuschlag waren seit dem 4.10.2018 fällig und sind seither nicht beglichen.
Ein gegen die Festsetzung geführtes Klageverfahren blieb erfolglos (Finanzgericht Münster, Urteil vom 25.5.2020 13 K 3900/18 K; Bundesfinanzhof – BFH –, Beschluss vom 24.11.2020 I B 33/20). Wegen der Einzelheiten wird auf die gerichtlichen Entscheidungen verwiesen.
Der Antragsgegner betrieb wegen der Körperschaftsteuer und des Solidaritätszuschlags (zusammen X €) sowie aufgelaufener Säumniszuschläge i.H.v. X €, Gebühren i.H.v. X € und Auslagen i.H.v. X €, zusammen X €, die Zwangsvollstreckung gegen die Antragstellerin. Zur Prüfung der in Betracht kommenden Vollstreckungsmaßnahmen nahm er Recherchen auf und stellte ausweislich einer Aktennotiz vom 9.3.2021 fest, dass die Antragstellerin über zwei Bankverbindungen verfüge (Bank 1, IBAN 1 sowie Bank 2, IBAN 2) und Geschäftsverbindungen zu vier Geschäftspartnern unterhalte (CN GmbH, U; C GmbH, U; Herr S, V sowie E GmbH, T). Demgegenüber sei, so die Aktennotiz, kein Anlagevermögen (Kfz, Maschinen etc.) und kein Grundvermögen vorhanden. Weiterhin überprüfte der Antragsgegner, ob ein Insolvenzverfahren anhängig sei, eine Vermögensauskunft abgegeben worden sei oder andere Informationen über die Antragstellerin etwa aufgrund einer Handelsregisterabfrage zu erlangen seien. Daraus ergaben sich ausweislich der Aktennotiz vom 9.3.2021 aber keine weiteren Erkenntnisse.
Der Antragsgegner erließ daraufhin am 10.3.2021 fünf Pfändungs- und Einziehungsverfügungen, und zwar gegenüber der Firma E GmbH, der Bank 2, Herrn S, der C GmbH und der CN GmbH. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen enthielten u.a. die Angabe der Steuerschuldnerin, die Höhe der rückständigen Abgaben, den Umfang der Pfändung gemäß § 309 der Abgabenordnung – AO –, die Einziehung der gepfändeten Forderungen gemäß § 314 AO sowie die Aufforderung zur Abgabe einer Drittschuldnererklärung gemäß § 316 AO. Ermessenserwägungen enthielten die Pfändungs- und Einziehun...