Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit von Säumniszuschlägen
Leitsatz (redaktionell)
Die Höhe der Säumniszuschläge begegnet jedenfalls für Veranlagungszeiträume bis einschließlich 2018 keinen erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, soweit mit der Norm des § 240 AO auch Zinsvorteile des Steuerpflichtigen ausgeglichen werden sollen.
Normenkette
AO §§ 233a, 234-235, 237-238, 240, 3 Abs. 4 Nr. 5
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten über die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der in einem Abrechnungsbescheid ausgewiesenen Säumniszuschläge.
Der Antragsgegner setzte für den Voranmeldungszeitraum 02/2013 Umsatzsteuer fest, die in der Folgezeit durch Umbuchung vollständig getilgt wurde. In 2016 beantragte die Antragstellerin den Erlass der entstandenen Säumniszuschläge zu dieser Umsatzsteuer, die sich auf X € beliefen. Weil bei der Antragstellerin Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung vorgelegen hätten, erließ der Antragsgegner daraufhin die Hälfte der Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit. Er führte aus, ein weitergehender Erlass komme nicht in Betracht, da die Säumniszuschläge im Übrigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung und einen Ausgleich für die Verwaltungskosten darstellten. Auf Antrag der Antragstellerin hin erließ der Antragsgegner am 25.05.2020 einen Abrechnungsbescheid, der Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 2013 für einen Zeitraum vor dem 01.01.2019 i. H. v. X € sowie eine entsprechende Zahlung durch die Antragstellerin auswies.
Die Antragstellerin hat am 27.10.2020 Klage unter dem Az. 12 K 3010/20 AO erhoben, über die der Senat noch nicht entschieden hat.
Aufgrund eines Antrages der Antragstellerin hat der Senat mit Beschluss vom 16.03.2021 die Vollziehung des Abrechnungsbescheides vom 25.05.2020 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 20.10.2020 ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe einer Entscheidung im Klageverfahren 12 K 3010/20 AO bzw. einer anderweitigen Erledigung des Klageverfahrens 12 K 3010/20 AO insoweit aufgehoben, als darin Säumniszuschläge i. H. v. X € ausgewiesen sind.
Die dagegen von der Antragstellerin erhobene Beschwerde hat der Bundesfinanzhof (BFH) mit Beschluss vom 10.06.2021 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung hat der BFH unter anderem angeführt, dass nicht nur gegen die Höhe der in § 233a der Abgabenordnung (AO) und in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO normierten Zinssätze ab dem Jahr 2012 erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestünden, die eine Aussetzung nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geboten erscheinen lassen, sondern, dass auch Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO bestünden. Dies gelte jedenfalls insoweit, als den Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukomme, sondern die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern, mithin also eine zinsähnliche Funktion. Ob und inwieweit der weitere Zweck, den Verwaltungsaufwand auszugleichen, hier ebenfalls zu berücksichtigen sei, sei bislang noch nicht entschieden.
Mit Schreiben vom 08.09.2021 beantragt der Antragsgegner eine Änderung des Beschlusses vom 16.03.2021 gemäß § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO. Zur Begründung führt er an, dass sich nach Ergehen des Aussetzungsbeschlusses im März 2021 durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vom 08.07.2021 Az.: 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17 neue Umstände im Sinne des § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO ergeben hätten. In dieser Entscheidung habe das Bundesverfassungsgericht die die Vollverzinsung umfassenden Regelungen des § 233a AO i. V. m. § 238 AO lediglich für einen Verzinsungszeitraum ab dem 01.01.2019 für die Zukunft für verfassungswidrig und unanwendbar erklärt. Die hier streitigen Säumniszuschläge beträfen aber Zeiträume vor dem 01.01.2019.
Die Antragstellerin trägt vor, dass das Finanzgericht für den Änderungsantrag nicht zuständig sei (vgl. BFH-Beschluss vom 15.09.2010 – I B 27/10, BStBl II 2010, 935). Allenfalls sei nach dem Geschäftsverteilungsplan des Finanzgerichts Münster der 5. Senat zuständig.
Außerdem verstoße § 240 AO gegen den unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. BFH, EuGH-Vorlage vom 08.06.2021 – VII R 44/19, juris).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten 12 K 3010/20 AO und 12 V 16/21 AO und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Gemäß § 69 Abs. 6 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Nach § 69 Abs. 6 Satz 1 FGO entscheidet das Gericht der Hauptsache.
1. Der Senat ist als Gericht der Hauptsache für eine Entscheidung nach § 60 Abs. 6 Satz 2 FGO zuständig, da die Hauptsache beim Senat unter dem Aktenzeichen 12 K...