Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerfestsetzung, Vertrauensschutz gem. § 176 Abs. 2 AO; Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 19 UStG
Leitsatz (redaktionell)
1. Der durch § 176 Abs. 2 AO begründete Vertrauensschutz wird durch § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG ausgeschlossen. Nach § 27 Abs. 19 Satz 2 steht § 176 AO einer Änderung nach § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG nicht entgegen. Das beklagte FA war zur Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung 2012 gem. § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG befugt. Weitere Voraussetzungen für den Ausschluss des Vertrauensschutzes stellt § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG nicht auf.
2. § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG ist - vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BFH zu § 32a KStG - als unecht rückwirkende Vorschrift zu qualifizieren. Die unechte Rückwirkung ist mit den grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes vereinbar, wenn sie zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt.
Normenkette
UStG § 13b; AO § 176 Abs. 2; UStG § 27 Abs. 19 Sätze 1-2
Nachgehend
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist strittig, ob der Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung für 2012 schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin gemäß § 176 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) entgegensteht und ob § 27 Abs. 19 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) verfassungsrechtlichen und unionsrechtlichen Vorgaben genügt.
Gegenstand des Unternehmens der Klägerin ist die Erbringung von Bauleistungen (Verputzen von Wänden und Mauern) für die Herstellung von Gebäuden. Im Streitjahr 2012 führte die Klägerin – zwischen den Beteiligten unstrittig – Innenputzarbeiten an die H GmbH im Umfang von 10.667,32 € aus. Ihre Leistungen erbrachte die Klägerin an der der H GmbH gehörigen Immobilie unter der Adresse A-Str. in C. Ausweislich des zwischen der Klägerin und der H GmbH geschlossenen Vertrags vom 22.8.2012, auf den wegen der Einzelheiten verwiesen wird, war der Zweck des Vertrags „die Ausführung der Innenputzarbeiten […] am Objekt Neubau von 5 WE mit Tiefgarage A-Str. 30 in 00000 C”. Beide Vertragsparteien gingen außerdem von einer Steuerschuldnerschaft der H GmbH gemäß § 13b UStG aus. In den durch die Klägerin gegenüber der H GmbH ausgestellten Rechnungen heißt es: „Bei den vorgenannten Leistungen handelt es sich um eine sog. Bauleistung, für die der Übergang der Steuerschuldnerschaft gem. § 13b UStG gilt. Die Umsatzsteuer ist somit vom Leistungsempfänger beim Finanzamt anzumelden und abzuführen.”
Die H GmbH erwarb, wie sich aus der Veräußerungsanzeige des beurkundenden Notars an das Finanzamt C ergibt, die streitgegenständliche Immobilie im Februar 2012 und veräußerte, wie sich aus dem Auszug eines „Bauträger-Kaufvertrags” und verschiedenen Veräußerungsanzeigen ergibt, die nunmehr geteilte Immobilie an verschiedene Erwerber mit der Verpflichtung, auf dem Grundstück ein Mehrfamilienhaus mit mehreren Wohneinheiten zu errichten, wobei jedem Erwerber eine Wohneinheit gehören sollte.
Die Klägerin reichte am 24.5.2013 eine einen Erstattungsbetrag ausweisende Umsatzsteuererklärung für 2012 ein, in der sie die streitigen Umsätze gegenüber der H GmbH als Umsätze kennzeichnete, für die der Leistungsempfänger nach § 13b UStG die Umsatzsteuer schulde. Der Beklagte stimmte durch Mitteilung vom 21.6.2013 der Umsatzsteuererklärung zu.
Im Januar 2014 beantragte die H GmbH beim Beklagten die Erstattung der Umsatzsteuer, die von ihr auf den Bezug der in diesem Verfahren streitigen Leistungen entrichtet wurde. Nach den Angaben des Beklagten bestanden zu keiner Zeit im Jahr 2012 Steuerrückstände der H GmbH.
Im Oktober 2014 teilte der Beklagte der Klägerin mit, dass die H GmbH die Erstattung der von ihr entrichteten Umsatzsteuer für die streitigen Bauleistungen gefordert hat. Aufgrund der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22.8.2013 V R 37/10 (Sammlung amtlich veröffentlichter Entscheidungen des BFH – BFHE – 243, 20, Bundessteuerblatt – BStBl. – II 2014, 128) beabsichtige er, der Beklagte, die Klägerin nach § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG als Steuerschuldner für die streitgegenständlichen Leistungen in Anspruch zu nehmen. Die Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung werde auf der Grundlage von § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG erfolgen. Es bestehe aber die Möglichkeit, den zivilrechtlichen Anspruch auf Nachforderung der Umsatzsteuer nach Maßgabe von § 27 Abs. 19 Sätze 3 und 4 UStG an das Finanzamt an Zahlungs statt abzutreten.
Mit Bescheid vom 1.12.2014 änderte der Beklagte die Umsatzsteuerfestsetzung für 2012 und setzte die Umsatzsteuer um 1.703,19 € höher fest. In dem Bescheid heißt es unter Art der Festsetzung „Der Bescheid ist nach § 164 Abs. 2 AO geändert. Der Vorbehalt der Nachprüfung bleibt bestehen.” In den Erläuterungen des Bescheids wird der Änderungsumfang wie ...