Entscheidungsstichwort (Thema)
Bildung einer Rückstellung für die potenzielle Rückzahlung vorläufig festgesetzter Erstattungszinsen
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Vorläufigkeitserklärung gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO i.V.m. § 239 Abs. 1 Satz 1 AO hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Zinssatzes führt nicht dazu, dass das Bestehen einer Verpflichtung zur Rückzahlung von Erstattungszinsen und die tatsächliche Inanspruchnahme hinreichend wahrscheinlich sind. Der Steuerpflichtige darf daher keine Rückstellung wegen einer drohenden, etwaigen Rückzahlung der vorläufig festgesetzten Erstattungszinsen bilden.
2. Die Möglichkeit, dass das Finanzamt die Zinsfestsetzungen nach § 165 Abs. 2 AO ändern darf, ist wegen der gebotenen Anwendung des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nicht hinreichend wahrscheinlich. Vorläufigkeitsvermerke, durchbrechen die Vertrauensschutzvorschrift des § 176 AO nicht.
3. Die Finanzbehörde setzt sich durch die Nicht-Anerkennung der Rückstellung wegen potenzieller Rückzahlung von Erstattungszinsen nicht zu seinem eigenen Verhalten (Anbringung des Vorläufigkeitsvermerks bzgl. der Zinsfestsetzung) in Widerspruch. Eine Rückstellungsbildung setzt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Verbindlichkeit voraus. Mit dem Vorläufigkeitsvermerk wurde jedoch keine mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwartende Änderung zum Ausdruck gebracht. Mit einer Änderung der Zinsfestsetzungen deshalb, weil das BVerfG die Regelung des § 176 AO mit Blick auf (vorläufig) festgesetzte Erstattungszinsen „außer Kraft” hätte setzen können, war nicht ernsthaft zu rechnen.
Normenkette
AO § 165 Abs. 2, § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 238 Abs. 1 S. 1, § 239 Abs. 1 S. 1, § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob mit Blick auf das damals anhängige Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes für Nachzahlungszinsen eine Inanspruchnahme des Klägers wegen einer etwaigen Rückzahlung vorläufig festgesetzter Erstattungszinsen drohte und der Kläger deshalb eine Rückstellung bilden durfte.
Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der Firma B eingetragene Genossenschaft (im Folgenden: Insolvenzschuldnerin). Die Insolvenzschuldnerin erbrachte gegenüber ihren Mitgliedern …leistungen. Sie ermittelte ihren Gewinn für das Streitjahr (2020) durch Betriebsvermögensvergleich (Wirtschaftsjahr 01.11. bis 31.10.).
Das Amtsgericht C eröffnete mit Beschluss vom …2016 wegen Zahlungsunfähigkeit das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin und bestellte den Kläger zum Insolvenzverwalter (Aktenzeichen des Amtsgerichts: … IN …/16).
Im Jahr 2020 änderte der Beklagte (nach einem erfolgreichen Rechtsbehelfsverfahren) die Umsatzsteuerbescheide 2001 bis 2016 und setzte Erstattungszinsen in Höhe von … EUR fest (Bescheide vom 23.04.2020). Bezüglich der Erstattungszinsen enthielten die Bescheide einen Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 der Abgabenordnung (AO) hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Zinsen. Hintergrund dafür waren die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht unter den Aktenzeichen 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17. Der Vorläufigkeitsvermerk basierte auf dem Schreiben des Bundesfinanzministeriums (BMF-Schreiben) vom 02.05.2019 (Bundessteuerblatt – BStBl – I 2019, 448), auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird. In den Erläuterungen in den Bescheiden heißt es jeweils (Hervorhebung nur hier):
Die Festsetzung von Zinsen ist gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nummer 3 AO in Verbindung mit § 239 Abs. 1 Satz 1 AO vorläufig hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Zinssatzes von 0,5 Prozent pro Monat (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO).
Die Vorläufigkeitserklärung erfasst sowohl die Frage, ob die angeführte gesetzliche Vorschrift mit höherrangigem Recht vereinbar ist, als auch den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht die streitige verfassungsrechtliche Frage durch verfassungskonforme Auslegung der angeführten gesetzlichen Vorschrift entscheidet (BFH-Urteil vom 30. September 2010, III R 39/08, BStBl 2011 II S. 11). Die Vorläufigkeitserklärung erfolgt lediglich aus verfahrenstechnischen Gründen. Sie ist nicht dahingehend zu verstehen, dass die im Vorläufigkeitsvermerk angeführte gesetzliche Vorschrift als verfassungswidrig angesehen wird. Sie ist außerdem nicht dahingehend zu verstehen, dass die Finanzverwaltung es für möglich hält, das Bundesverfassungsgericht könne die im Vorläufigkeitsmerk angeführte Rechtsnorm gegen ihren Wortlaut auslegen.
Sollte aufgrund einer diesbezüglichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diese Zinsfestsetzung aufzuheben oder zu ändern sein, wird die Aufhebung oder Änderung von Amts wegen vorgenommen; ein Einspruch ist daher insoweit nicht erforderlich. Abhängig von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts könnte unter Umständen auch eine Aufhebung oder Änderung zu Ihren Ungunsten erfolgen.
Mit Blick auf die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und die Bundesratsdrucksachen 324/18 vom 04.07.2018 u...