Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld für einen Zeitraum, der mehr als sechs Monate vor Beginn des Monats liegt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist
Leitsatz (amtlich)
1. Die im Jahr 2019 geltenden §§ 70 Abs. 1 Satz 2, 31 EStG sind verfassungsgemäß. Einen Verstoß gegen die europarechtlich garantierten Grundfreiheiten oder eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit kann das Gericht nicht erkennen.
2. Ein bei Geburt des Kindes im Jahr 2007 wegen der Gewährung von Familienleistungen in Rumänien mutmaßlich dort gestellter Antrag auf Familienleistungen wäre kein Antrag auf deutsches Kindergeld i.S. der §§ 67, 70 Abs. 1 Satz 2 EStG, denn die die Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierende VO Nr. 883/2004 trat erst am 01.05.2010 in Kraft, so dass eine fristwahrende Weiterleitung nach Art. 81 der VO Nr. 883/2004 im Jahre 2007 noch nicht in Betracht kam.
3. Die Vorschrift des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG betrifft das Erhebungsverfahren und nicht das Festsetzungsverfahren.
Normenkette
EStG § 70 Abs. 1 S. 2
Nachgehend
Tatbestand
Streitig ist das Kindergeld für A (geb.: 04.11.2007), den Sohn des Klägers, für die Monate März und April 2019.
Der Kläger ist rumänischer Gastarbeiter, der von 18.03.2019 bis 31.05.2019 in Deutschland als Arbeitnehmer beschäftigt war und anlässlich der Aufnahme dieser Beschäftigung nach Deutschland eingereist war.
Die Prozessbevollmächtigten beantragten mit formlosen Schriftsatz vom 22.11.2019 (eingegangen bei der Familienkasse am 25.11.2019) die Festsetzung von Kindergeld für A. Diesem Antrag waren weder ein Steuerbescheid, noch sonstige Unterlagen beigefügt. Bei Antragstellung erfolgte keine Angabe der Monate, für welche Kindergeld beansprucht werde, sondern der Antrag sollte "sämtliche Anspruchszeiträume bis zur Erstellung des Kindergeldbescheids" umfassen.
Mit Schriftsatz vom 09.09.2020 legten die Prozessbevollmächtigten eine Geburtsurkunde des Kindes, eine Heiratsurkunde der Eltern (beides in rumänischer Sprache), das teils ausgefüllte Formblatt E 411, eine Familienstandsbescheinigung in rumänischer und deutscher Sprache vom 08.11.2019 (Kind und beide Eltern wohnen in 1, Rumänien), einen Ausdruck der deutschen elektronischen Lohnsteuerbescheinigung für 2019 mit der Angabe eines Beschäftigungszeitraums vom 18.03 bis 31.05., einen förmlichen Antrag auf deutsches Kindergeld und einen Einkommensteuerbescheid des Finanzamts 2 für 2019 vom 31.08.2020 vor, bei dem in den Erläuterungen ausgeführt wird, dass eine Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG durchgeführt wurde.
Mit Bescheid vom 05.11.2020 setzte die Familienkasse Kindergeld für März bis Mai 2019 in Höhe eines Unterschiedsbetrages zwischen dem gesetzlichen Kindergeld und der rumänischen Familienleistung zu Gunsten des Klägers für dessen Sohn A fest. Im selben Bescheid verfügte die Familienkasse unter der Überschrift "Berechnung des zustehenden Unterschiedsbetrages an Kindergeld", dass sich hieraus eine Nachzahlung des Kindergeldes für den Zeitraum Mai 2019 in Höhe von 163,22 € ergebe. Eine Berechnung der Festsetzung für März und April 2019 wurde nicht vorgenommen.
Die Entscheidung wurde damit begründet, dass eine Auszahlung nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nur 6 Monate rückwirkend vor Antragstellung möglich sei. Der Anspruch auf Kindergeld nach § 62 bleibe von dieser Auszahlungsbeschränkung unberührt.
Den Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 08.12.2020 als unbegründet zurück.
Die Prozessbevollmächtigten haben Klage erhoben.
Mit geändertem Kindergeldbescheid vom 14.07.2021 setzte die Familienkasse wiederum für März bis April 2019 Kindergeld in Höhe eines Unterschiedsbetrages zwischen dem gesetzlichen Kindergeld und der rumänischen Familienleistung zu Gunsten des Klägers für dessen Sohn A fest. Sie änderte jedoch die Anlage "Berechnung des zustehenden Unterschiedsbetrages an Kindergeld" dahin, dass, unter Anrechnung von 84 RON (17,08 €) für März 2019 und 150 RON (30,49 €) für April 2019, Kindergeld in Höhe von 176,92 € für März 2019 und 163,51 € für April 2019 berechnet wurde. Die Auszahlung von Kindergeld für die Monate März bis April 2019 wurde abgelehnt.
Die Prozessbevollmächtigten haben zur Begründung der Klage im Wesentlichen vorgetragen:
§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG verstoße gegen Art. 3 GG. Außerdem schränke die Vorschrift das Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)unzulässig ein und verletze das Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV. Damit verstoße die Norm gegen Verfassungsrecht sowie zwingendes europäisches Recht.
Der fristwahrende, formlose Erstantrag des Klägers sei am 22.11.2019 für die Zukunft bis zur Erstellung des Kindergeldbescheids gestellt worden. Die für eine Kindergeldgewährung erforderlichen Unterlagen könnten bei Gastarbeitern jedoch erst nach Beendigung des Jahres, in dem die Gastarbeit stattgefunden habe, vorgelegt und der Anspruc...