Rz. 80e
Die Änderung der Rz. 131 ist ausweislich der Rz. 324 des Anwendungsschreibens zur Abgeltungsteuer grundsätzlich anwendbar "auf alle offenen Fälle". Dies betrifft aufgrund der u. g. Regelung in Rz. 325 laut BMF-Schreiben im Wesentlichen Veranlagungsfälle. Da die Änderung der Rz. 131 im BMF-Schreiben nicht nur die Zukunft, sondern auch alle offenen Fälle einbezieht, handelt es sich vorliegend um eine Rückwirkung. Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert, bedarf dies aber nach der Rspr. des BVerfG einer "besonderen Rechtfertigung" vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des GG, unter deren Schutz Sachverhalte "ins Werk gesetzt" worden sind.
Vorliegend handelt es sich m. E. um eine unzulässig echte Rückwirkung. Zunächst wird es sich um eine echte Rückwirkung handeln, denn diese liegt nach der Rspr. des BVerfG dann vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert. Eine Rechtsnorm entfaltet danach eine "echte" Rückwirkung, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll ("Rückbewirkung von Rechtsfolgen"). Bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss muss der von einem Gesetz Betroffene grundsätzlich darauf vertrauen können, dass seine auf geltendes Recht gegründete Rechtsposition nicht durch eine zeitlich rückwirkende Änderung der gesetzlichen Rechtsfolgenanordnung nachteilig verändert wird. Das Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass der Bürger sich darauf verlassen können muss, dass sein dem jeweils geltenden Recht nicht widersprechendes Verhalten von der Rspr. nicht nachträglich als rechtswidrig qualifiziert wird. Zu bedenken ist hier vor allem, dass nach § 38 AO i. V. m. § 36 Abs. 1 EStG die ESt mit dem Ablauf des Vz entsteht. Es liegt daher nahe, dass unzulässig in bereits abgeschlossene Tatbestände eingegriffen wird.
Die dargestellten Bedenken haben vor allem Bedeutung für die Veranlagung, da (nur) die auszahlenden Stellen nach § 44 Abs. 1 S. 3 EStG i. V. m. den entsprechenden BMF-Schreiben an die Verlautbarungen der Finanzverwaltung im BStBl gebunden sind.
Der für die auszahlenden Stellen nach § 44 Abs. 1 S. 3 EStG verpflichtende Beginn der Anwendung der Rz. 131 im KapESt-Verfahren war ursprünglich für den 1.1.2024 vorgesehen.
Aus Sicht der auszahlenden Stellen war eine Umsetzung zum 1.1.2024 jedoch nicht zu schaffen. Hintergrund ist, dass sich die Umsetzung der geänderten Rz. 131 im BMF-Schreiben in der Praxis als sehr komplex herausgestellt hat. In der Regel existiert in den Kreditinstituten eine Steuerberechnungssoftware, die die einzubehaltende KapESt auf eine Bemessungsgrundlage ermittelt und die laufende Verlustverrechnung etc. vornimmt. Gerade bei Erträgen aus dem Nicht-Wertpapierbereich werden die Bemessungsgrundlagen jedoch nicht durch die Steuerberechnungssoftware ermittelt, sondern in zahlreichen vorgelagerten Systemen, die bspw. für die Abrechnung von Kontokorrentzinsen, Tages- oder Festgeldern zuständig sind. Dies bedeutet, dass man die Anforderungen der Rz. 131 in diesen vorgelagerten Systemen umsetzen muss und jeweils die Schnittstellen zum Steuerberechnungssystem entweder anpassen oder erstmalig aufbauen muss. Insofern kommt zu der fachlichen Komplexität der Rz. 131 erschwerend eine erhebliche technische Komplexität hinzu. Aus den dargestellten Gründen hatten sich die kreditwirtschaftlichen Verbände für eine Verlängerung der Nichtbeanstandungsregelung in Rz. 325 S. 1 um ein Jahr bis zum 1.1.2025 ausgesprochen.
Die Finanzverwaltung ist dem mit einer Änderung im BMF-Schreiben v. 11.7.2023 gefolgt. Daher wird es für den KapESt-Abzug gem. §§ 43, 44 EStG von der Finanzverwaltung nach der geänderten Rz. 325 S. 1 als Erleichterungsregelung nicht beanstandet, wenn die geänderte Rz. 131 in der Fassung des BMF-Schreibens v. 19.5.2022 erst ab dem 1.1.2025 angewendet wird.
Rz. 81
Durch G. v. 22.10.1997 wurde u. a. die EG-Wertpapierdienstleistungs-Richtlinie 93/22/EWG durch Änderungen des KWG und des WpHG in deutsches Recht umgesetzt. Eine dieser Änderungen war die Einführung zulassungspflichtiger Finanzdienstleistungsinstitute, die (wie schon die Kreditinstitute) der Aufsicht durch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen und das Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel unterstellt wurden. Finanzdienstleistungsinstitute sind Unternehmen, die keine Bankgeschäfte betreiben, sondern für andere gewerbsmäßig die in § 1 Abs. 1a KWG genannten Finanzdienstleistungen erbringen. Bankgeschäfte, die von Kreditinstituten betrieben werden, sind in § 1 Abs. 1 KWG aufgelistet. Kreditinstitute und Finanzdienstleistungsinstitute werden in § 1 Abs. 1b KWG unter dem Oberbegriff "Institute" zusammengefasst.
Als inländische Finanzdienstleistungsinstitute gelten auch die inländischen Zweigstellen bzw. Zweigniederlassungen ausl. Unternehmen i. S. d. §§ 53 und 53b KWG, nicht aber...