Leitsatz
1. Der Grenzgängerbegriff ist in Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz 1971/2010 unabhängig von örtlichen Voraussetzungen oder Grenzzonen definiert. Ob eine Rückkehr an den Wohnort aufgrund der großen Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort zumutbar ist, betrifft die Frage, ob eine (schädliche) Nichtrückkehr aufgrund der Arbeitsausübung vorliegt.
2. Wenn sich bei Krankenhauspersonal regulärer Dienst und Rufbereitschaft lückenlos jeweils abwechseln, liegt ein mehrtägiger ununterbrochener Arbeitseinsatz vor, der als Einheit zu behandeln ist. Ob ein sog. Nichtrückkehrtag vorliegt, richtet sich unter diesen Umständen allein nach der Rückkehr oder Nichtrückkehr am Ende des mehrtägigen Arbeitseinsatzes (Bestätigung des Senatsurteils vom 13.11.2013 – I R 23/12, BFHE 244, 270, BStBl II 2014, 508).
3. Der Grenzgängerbegriff des Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz 1971/2010 setzt keine Mindestanzahl an Grenzüberquerungen pro Woche oder Monat voraus. Die anders lautende Regelung in § 7 KonsVerCHEV verstößt gegen den Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes.
Normenkette
Art. 15a, Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 Buchst. d DBA-Schweiz 1971/2010, § 7 KonsVerCHEV
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten über den Status als Grenzgänger i.S.d. Art. 15a DBA-Schweiz 1971/ 2010.
Die Kläger sind zusammen zur ESt veranlagte Ehegatten. Im Streitjahr 2014 wohnten sie in X (Deutschland). Der Kläger war als Honorararzt in einer Klinik in Y (Deutschland) tätig. Darüber hinaus erzielte er aus einer Vertretungstätigkeit in einer Klinik in Z (Schweiz) vom 24.8.2014 bis 14.9.2014, vom 28.9.2014 bis 5.10.2014 und vom 2.11.2014 bis 5.11.2014 Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit i.H.v. … EUR. Der Kläger gab an, diese Einkünfte seien in der Schweiz besteuert worden.
Das FA qualifizierte den Kläger als Grenzgänger i.S.d. Art. 15a DBA-Schweiz 1971/2010 und erfasste die schweizerischen Einkünfte im ESt-Bescheid 2014 als steuerpflichtige Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit. Der gegen diesen Bescheid erhobene Einspruch hatte insoweit keinen Erfolg.
Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt (FG München, Urteil vom 12.9.2018, 15 K 1010/18, Haufe-Index 13380468, EFG 2019, 1658).
Entscheidung
Der BFH hat das FG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Hinweis
1. Die Besprechungsentscheidung betrifft wie das im vorhergehenden Beitrag erläuterte Urteil die Anwendung der Grenzgängerregelung des DBA Schweiz in einem atypischen Beschäftigungsverhältnis. Daher kann zunächst auf die Ausführungen im vorhergehenden Beitrag zu BFH, Urteil vom 28.6.2022, I R 24/21, Haufe-Index 15453203, BFH/PR 2023, 91) verwiesen werden.
2. Der Streitfall zeichnet sich in tatsächlicher Hinsicht vor allem durch die Besonderheit aus, dass der Arbeitnehmer, ein Arzt, ununterbrochene längere Arbeitseinsätze in einer schweizerischen Klinik absolviert hatte. Diese Besonderheiten führten hinsichtlich der Anwendung der Grenzgängerregelung zu Streitigkeiten mit dem FA.
3. Mit dem Besprechungsurteil hat der BFH nunmehr für Klarheit gesorgt.
a) Danach scheitert die Anwendung der Grenzgängerregelung nicht daran, dass der Kläger einen sehr weiten Weg zur Arbeit hatte (zwischen seinem inländischen Wohnort und seinem Einsatzort in der Schweizer Klinik betrug die Entfernung 207 km). Denn im Unterschied etwa zum DBA-Frankreich (siehe den vorhergehenden Beitrag zu BFH, Urteil vom 28.6.2022, I R 24/21, Haufe-Index 15453203, BFH/PR 2023, 91) kennt das DBA-Schweiz keine Grenzzonen oder sonstige räumliche Anforderungen hinsichtlich der Entfernung zwischen Wohn- oder Arbeitsort und Grenze. Deshalb kann ein im Inland wohnhafter Arbeitnehmer prinzipiell auch dann Grenzgänger sein, wenn er einen sehr weiten Arbeitsweg zu seinem Schweizer Arbeitsplatz hat. Die Unzumutbarkeit einer arbeitstäglichen Rückkehr spielt für die Anwendung des Tatbestands des Grenzgängers nach Art. 15a Abs. 1 DBA-Schweiz keine Rolle.
b) Für die Anwendung des Art. 15a Abs. 1 DBA-Schweiz sind mehrtägige Arbeitseinsätze, bei denen die einzelnen Arbeitstage über 24-Stunden-Bereitschaftsdienste lückenlos verbunden werden, als Einheit zu betrachten. Wenn ein Arbeitnehmer nach mehreren solcher Arbeitseinsätze jeweils an seinen Wohnort zurückkehrt, dann ist das gesetzliche Merkmal der regelmäßigen Rückkehr an den Wohnsitz erfüllt. Die Tage, die der Arbeitnehmer im Rahmen solcher Arbeitseinsätze im Tätigkeitsstaat verbringt, stellen deshalb auch keine sog. Nichtrückkehrtage dar (hierzu den vorhergehenden Beitrag).
c) Dass der Kläger im Rahmen seiner mehrtägigen Arbeitseinsätze insgesamt lediglich 31 Tage in der Schweiz gearbeitet hat, lässt ebenfalls die Eigenschaft als Grenzgänger nicht entfallen. Denn wie im vorhergehenden Beitrag bereits dargestellt, kommt es nicht auf einen Mindestbeschäftigungszeit oder eine Mindestanzahl an Grenzüberquerungen in einer bestimmten Zeiteinheit an. Der BFH wiederholt in diesem Zusammenhang sein Verdikt, dass die davon abweichende Regelung in der Rechtsverordnung zur Konsultationsvereinbarung Schweiz gegen höherrangiges...