Leitsatz
1. Die AO enthält keine Regelung, nach der ein Anspruch auf Akteneinsicht im steuerlichen Verwaltungsverfahren besteht. Der Steuerpflichtige hat jedoch ein Recht darauf, dass die Finanzbehörde über seinen Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht nach pflichtgemäßem Ermessen entscheidet. Diese Rechtsfragen sind geklärt.
2. Der fehlende Anspruch auf Akteneinsicht im außergerichtlichen Besteuerungsverfahren und eine insoweit der Finanzverwaltung eingeräumte Ermessensausübung verstoßen nicht gegen verfassungsrechtliche Grundsätze.
3. Ein Anspruch auf Akteneinsicht im steuerlichen Ermittlungsverfahren lässt sich auch nicht aus der Richtlinie 95/46/EG herleiten, die ihre Umsetzung in innerstaatliches Recht durch das BDSG und entsprechende landesrechtliche Datenschutzgesetze erfahren hat, weil sowohl die Richtlinie 95/46/EG als auch die nationalen Datenschutzgesetze den Vorrang einschränkender bereichsspezifischer Regelungen in Steuerangelegenheiten anerkennen. Die AO enthält eine in diesem Sinn abschließende Regelung für den Umgang mit den im Besteuerungsverfahren gespeicherten Daten.
Normenkette
§ 91 AO , Art. 19 Abs. 4 GG , Art. 103 Abs. 1 GG , Richtlinie 95/46/EG
Sachverhalt
Das FA hatte gegen den Kläger ein Steuerermittlungsverfahren eröffnet. Der Bevollmächtigte des Klägers bat um die Gewährung von Akteneinsicht in die Ermittlungsakten – insbesondere das sog. "Fallheft" – der Steuerfahndungsstelle.
Das FA lehnte die begehrte Akteneinsicht während des noch nicht abgeschlossenen Ermittlungsverfahrens ab. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.
Entscheidung
Der BFH hat die Revision gegen das Urteil des FG nicht zugelassen. Es sei geklärt, dass die AO – anders als andere Verfahrensordnungen wie z.B. § 29 VwVfG und § 147 StPO – für das steuerliche Verwaltungsverfahren keinen Anspruch auf Gewährung von Einsicht in die Verfahrens- und Ermittlungsakten gewähre. Es bestehe nur Anspruch auf eine Ermessensentscheidung, ob die Behörde in Einzelfällen Akteneinsicht gewähren wolle. Dieser Anspruch sei erfüllt, wenn das FA im Rahmen einer Interessenabwägung die Belange des Steuerpflichtigen und die eigenen gegeneinander abgewogen habe (Hinweis auf BStBl II 1985, 571).
Die Gewährung von Akteneinsicht sei dabei entsprechend dem Willen des Gesetzgebers als Ausnahme anzusehen. Das verstoße auch nicht gegen Art. 12 RL 95/46/EG. Selbst wenn sich nämlich daraus ein Akteneinsichtsanspruch ergebe, stehe dieser unter dem Vorbehalt des Art. 13 RL 95/46/EG, wonach die Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften erlassen können, die eine Beschränkung des Akteneinsichtsrechts insbesondere dann vorsehen, wenn diese Beschränkungen für ein wichtiges finanzielles Interesse eines Mitgliedstaates einschließlich der Steuerangelegenheiten notwendig sind. So sei es hier geschehen. Zwar regele die AO nicht ausdrücklich, dass ein Anspruch auf Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren nicht besteht; in ihrem "absichtsvollen Unterlassen einer Regelung" liege aber ein Gebrauchmachen von der Regelungsbefugnis für das steuerliche Verfahrensrecht.
Hinweis
1. Beachten Sie zunächst, dass die Datenschutzgesetze neben der AO allenfalls subsidiär gelten. § 1 Abs. 3 Satz 1 BDSG regelt ausdrücklich diese Subsidiarität. Eine ähnliche Regelung enthält z.B. das Hessische DSG. Diese Gesetze kamen im Entscheidungsfall deshalb nicht zum Zug, weil die AO eine abschließende Regelung für den Umgang mit den im Besteuerungsverfahren gespeicherten Daten enthält.
2. Beachten Sie ferner den AEAO Nr. 4 zu § 91 AO und die darin zum Ausdruck gekommene Auffassung und Handhabung des Akteneinsichtsrechts durch die Verwaltung. Vor Gericht können Sie sich für die Auslegung einer solchen Verwaltungsvorschrift nicht darauf berufen, wie diese objektiv zu verstehen ist, als ob sie ein Gesetz wäre, sondern nur darauf, wie die Verwaltung sie tatsächlich verstanden hat und verstanden wissen wollte. Wenn Sie eine positive Entscheidung über ein Akteneinsichtsbegehren erreichen wollen – welche der Finanzbehörde selbstverständlich möglich ist –, müssen Sie mit der im AEAO getroffenen Verwaltungsregelung oder der in ihrem Land üblichen Praxis der Finanzämter argumentieren.
3. Der Anspruch des Steuerpflichtigen auf Gewährung des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG und sein Anspruch auf Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) werden durch sein nach Meinung des BFH fehlendes Akteneinsichtsrecht im steuerlichen Verwaltungsverfahren nicht verletzt. Sie werden daher durch Berufung auf solche Rechtsgewährleistungen keine Akteneinsicht erreichen können.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 4.6.2003, VII B 138/01