Leitsatz
Ist ein Arbeitnehmer aus Deutschland in die Nähe seiner Arbeitsstelle in der Schweiz verzogen, so eröffnet Art. 4 Abs. 4 DBA-Schweiz 1971/1992 auch dann kein erweitertes Besteuerungsrecht Deutschlands, wenn der Umzug in die Schweiz erst mehrere Jahre nach Aufnahme der dortigen Arbeitstätigkeit erfolgt ist.
Normenkette
Art. 4 Abs. 1 und 4, Art. 15a Abs. 1 DBA-Schweiz 1971/1992
Sachverhalt
Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und wohnte bis Ende Januar 2004 in Deutschland. Er war seit 1998 für eine AG in der Schweiz nichtselbstständig tätig. Am 27.01.2004 erwarb er eine Wohnung in der Schweiz, wohin er sich unter Aufgabe seines deutschen Wohnsitzes abmeldete. Sein Weg zur Arbeitsstätte verringerte sich durch den Umzug von 35 km (1 Stunde) Autofahrt auf 0,5 km Fußweg je einfache Strecke.
Das Arbeitsverhältnis zu der AG endete zum 30.11.2004. Im Dezember 2004 nahm der Kläger eine nichtselbstständige Tätigkeit für eine GmbH in Deutschland auf. Die Anstellung bei der GmbH war zunächst bis zum 31.12.2005 befristet, wurde aber später zum 30.11.2005 vorzeitig beendet. Während der Zeit der Beschäftigung bei der GmbH pendelte der Kläger arbeitstäglich von seinem Wohnort zur Arbeitsstätte und zurück. Im Dezember 2005 war der Kläger arbeitslos; seit Januar 2006 war er erneut in der Schweiz nichtselbstständig tätig.
Das FA ging zunächst davon aus, dass der Kläger für das Streitjahr der erweiterten beschränkten Steuerpflicht unterliege. Daraufhin beantragte der Kläger unter Hinweis auf § 1 Abs. 3 EStG eine Veranlagung zur ESt. Dementsprechend behandelte das FA ihn als unbeschränkt Steuerpflichtigen. Es rechnete die in der Schweiz gezahlte Steuer auf die ESt an.
Die gegen den ESt-Bescheid gerichtete Klage hatte Erfolg; das FG hob den Bescheid ersatzlos auf (FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, Urteil vom 24.09.2009, 3 K 3034/07, Haufe-Index 2292347, EFG 2010, 624).
Entscheidung
Der BFH ist dem FG gefolgt:
Die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 4 S. 4 DBA-Schweiz seien erfüllt. Dass der Kläger erst nach Aufnahme seiner Tätigkeit in der Schweiz in die Schweiz verzogen sei, stehe dem nicht entgegen; die Vorschrift enthalte dafür keine Einschränkung.
Der BFH teilt ausdrücklich nicht die Befürchtung des FA, dass Art. 4 Abs. 4 S. 4 DBA-Schweiz 1971/1992 dadurch von einer Ausnahmevorschrift zu einer "Massenvorschrift" umgestaltet werde. Denn: ein aus beruflichen Gründen in die Schweiz verziehender Arbeitnehmer werde in aller Regel seine dortige Arbeitstätigkeit für längere Zeit fortsetzen; die Frage nach der Anwendung des Art. 4 Abs. 4 S. 4 DBA-Schweiz 1971/1992 stelle sich zumeist schon deshalb nicht, weil der Arbeitnehmer nach deutschem Steuerrecht keine hier steuerpflichtigen Einkünfte erziele. Im Urteilsfall trete diese Frage nur deshalb auf, weil der Kläger alsbald nach seinem Umzug in die Schweiz eine Arbeitsstelle in Deutschland angenommen habe. Dass in dieser Situation Art. 4 Abs. 4 S. 4 DBA-Schweiz 1971/1992 für einschlägig erachtet werde, lasse den Ausnahmecharakter dieser Norm unberührt.
Hinweis
1. Das DBA-Schweiz kennt in Art. 4 Abs. 4 die sog. überdachende Besteuerung.
Danach kann Deutschland bei einer in der Schweiz ansässigen natürlichen Person, die nicht die schweizerische Staatsangehörigkeit besitzt und die in Deutschland insgesamt mindestens fünf Jahre unbeschränkt steuerpflichtig gewesen ist, in dem Jahr, in dem die unbeschränkte Steuerpflicht zuletzt geendet hat und in den folgenden fünf Jahren die aus Deutschland stammenden Einkünfte besteuern.
Das gilt jedoch ausnahmsweise nicht, wenn die natürliche Person in der Schweiz ansässig geworden ist, um dort eine echte unselbstständige Tätigkeit für einen Arbeitgeber auszuüben, an dem sie über das Arbeitsverhältnis hinaus weder unmittelbar noch mittelbar durch Beteiligung oder in anderer Weise wirtschaftlich wesentlich interessiert sei (Art. 4 Abs. 4 S. 4 DBA-Schweiz 1971). In diesen Fällen verzichtet Deutschland auf den ergänzenden Besteuerungsanspruch, da der Zuzug in die Schweiz auf Gründen beruht, die eine "Steuerflucht" aus dem Inland nicht vermuten lasse.
2. Die Ausnahmevorschrift des Art. 4 Abs. 4 S. 4 DBA-Schweiz 1971 erfordert, dass das Ansässigwerden in der Schweiz in der Absicht erfolgt, um dort eine unselbstständige Tätigkeit auszuüben.
Allerdings ist das einzuschränken, und dazu hatte der BFH kürzlich bereits dreierlei erkannt (BFH, Urteil vom 02.09.2009, I R 111/08, BFH/NV 2009, 2044, BFH/PR 2010, 36):
- Die besagte Absicht muss keineswegs der alleinige Beweggrund für den Zuzug in die Schweiz sein. Es ist denkbar, dass andere Beweggründe (u.U. sogar vorrangiges) Motiv für den Umzug in die Schweiz waren, wenn nur die Absicht hinzu kommt, dort einer unselbstständigen Arbeit nachzugehen.
- Es ist auch nicht erforderlich, dass die beabsichtigte Arbeitsaufnahme schon konkrete Formen angenommen hat. Insbesondere müssen weder der Arbeitgeber noch der Arbeitsplatz noch die Art der auszuübenden Tätigkeit beim Zuzug in der Schweiz feststehen.
- Es genügt gleicherm...