Die Entscheidung betrifft die Frage, ob gesondert festgestellte Besteuerungsgrundlagen – wie z. B. Verluste eines Kommanditisten – bei der Veranlagung zur Einkommensteuer noch nach Ablauf der Festsetzungsfrist (§§ 169 Abs. 1 Satz 1, 171 Abs. 10 AO) zu berücksichtigen sind.
Die Besonderheit des Streitfalls lag darin, dass der – als Kommanditist an einer KG beteiligte – Kläger von den ihn betreffenden Verlustzuweisungen erst nach Ablauf der Festsetzungsfristen erfahren hatte. Die Verlustanteile waren zwar von dem für die Feststellung der KG-Einkünfte zuständigen Betriebs-FA durch entsprechende Bescheide festgestellt worden, wurden jedoch bei den ESt-Veranlagungen des Klägers nicht berücksichtigt, da das für die ESt-Veranlagungen zuständige Wohnsitz-FA die Mitteilungen über die Feststellungsbescheide ("ESt-4B-Mitteilungen") nicht erhalten hatte.
Aus diesem Grunde war der Kläger erst nach Bestandskraft der ESt-Bescheide und nach Ablauf der Festsetzungsfrist (§ 161 Abs. 1 AO) in der Lage, die Berücksichtigung der Verlustzuweisungen durch Änderung der ESt-Bescheide zu beantragen. Den Änderungsantrag lehnte das FA wegen Festsetzungsverjährung ab. Dagegen entschied das FG, das FA müsse die ESt-Bescheide unter entsprechender Anwendung der Regelungen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO, vgl. auch Gruppe 4/365: "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand") ändern.
Der BFH entschied, dass eine Steuerfestsetzung oder ihre Änderung nicht mehr zulässig ist, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist (§169 Abs. 1 Satz 1 AO). Im Gegensatz zu den von Beteiligten (§ 78 AO) oder Dritten gegenüber den Finanzbehörden einzuhaltenden Fristen, gegen deren unverschuldete Versäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist (§ 110 AO), findet nach der Entscheidung des BFH im Falle von Verwaltungsfehlern keine Wiedereinsetzung statt. Auch der Grundsatz von Treu und Glauben darf nach Ansicht des BFH nicht dazu führen, dass ein Steuerbescheid nach Eintritt der Festsetzungsverjährung (vgl. auch Gruppe 4/334: "Verjährung") noch zu Gunsten oder zu Lasten des Steuerpflichtigen zu ändern ist. Die Verjährungsvorschriften dienen der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden. Steuerbescheide, die sich nachträglich als unrichtig erweisen, könnten nicht ohne zeitliche Begrenzung geändert werden.
Die Entscheidung mag plausibel begründet sein – befriedigen kann sie jedoch nicht. Denn der Kläger muss nach der Entscheidung des BFH ohne eigenes Verschulden eine steuerliche Belastung tragen, die der materiellrechtlichen Situation nicht entspricht. Da die Nichtberücksichtigung der Verlustanteile wahrscheinlich auf einem innerorganisatorischen Fehler der Finanzverwaltung beruht (Verlust der ESt-4B-Mitteilung) und der Kläger wegen Unkenntnis des Sachverhalts von seinen gesetzlichen Rechtsbehelfsmöglichkeiten nicht rechtzeitig Gebrauch machen konnte, müsste die Finanzverwaltung m. E. die materielle Unrichtigkeit im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme (§ 227 AO) ausgleichen.
Hinweis:
Die Gesellschafter der damals schon liquidierten KG hatten einen Empfangsbevollmächtigten bestellt (vgl. hierzu § 183 Abs. 1 bis 3 AO), dem die Feststellungsbescheide möglicherweise vor Ablauf der Festsetzungsfrist zugegangen sind. Ob den Empfangsbevollmächtigten ein Verschulden an der verspäteten Benachrichtigung des Klägers trifft, kann diesem BFH-Urteil nicht entnommen werden. Denkbar ist jedoch, dass der Empfangsbevollmächtigte (z.B. der Steuerberater) dem Kläger zivilrechtlich für den entstandenen Schaden haften muss, falls der Kläger mit seinem Antrag auf einen Billigkeitserlass keinen Erfolg haben sollte.