Leitsatz
1. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits zu prüfen.
2. Allein aus dem Umstand, dass der Sozialleistungsträger den dem Grunde nach Kindergeldberechtigten auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrags für das Kind in Anspruch nimmt, ist nicht abzuleiten, dass dieses zum Selbstunterhalt außerstande ist.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG, § 94 Abs. 2 SGB XII, § 1602, § 1610 BGB
Sachverhalt
Die Klägerin ist Mutter des 1988 geborenen Kindes K, das seit seinem 14. Lebensjahr schwerbehindert ist und seit 2012 in einer stationären Einrichtung wohnt. Die monatlichen Kosten i.H.v. 850 EUR für den Lebensunterhalt und von 3.200 EUR für die fachliche Hilfe werden vom Sozialhilfeträger übernommen. K war vollzeitbeschäftigt und erhielt ein Nettogehalt von 1.443 EUR. Der Sozialhilfeträger beteiligte K daher an den Kosten für seine Unterbringung und Betreuung.
Der Sozialhilfeträger nahm die Klägerin nach § 94 Abs. 2 SGB XII i.V.m. §§ 1601ff. BGB auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrags i.H.v. monatlich 28,38 EUR in Anspruch.
Den Kindergeldantrag für Januar 2016 lehnte die Familienkasse ab. Der Einspruch blieb ebenso erfolglos wie die Klage. Zur Begründung führte das FG aus, K sei nicht aufgrund seiner Behinderung außerstande gewesen, sich selbst zu unterhalten (FG Münster, Urteil vom 23.1.2018, 12 K 4010/16 Kg, Haufe-Index 13416306). Der Unterhaltsbeitrag der Klägerin indiziere nicht die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt, sondern sei bei der Vergleichsrechnung zu berücksichtigen und mindere die beim Kind als Bezüge anzusetzenden Sozialleistungen.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision der Klägerin als unbegründet zurück.
Hinweis
1. Ein behindertes Kind wird nach Vollendung des 18. Lebensjahrs nur berücksichtigt, wenn es wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Die Fähigkeit zum Selbstunterhalt wird in ständiger Rechtsprechung durch grundsätzlich monatsbezogenen Vergleich des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes (= Grundbedarf nach § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG plus individueller behinderungsbedingter Mehrbedarf) einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits ermittelt. Zu den finanziellen Mitteln des Kindes gehören auch nachrangige Sozialleistungen, soweit der Sozialleistungsträger das Kind nicht zu einem Kostenbeitrag heranzieht oder bei den Eltern Regress nimmt.
Einkünfte und Bezüge des Kindes sind nach § 11 EStG oder – bei Gewinneinkünften – nach dem Realisationsprinzip zu erfassen. Nicht monatlich anfallender behinderungsbedingter Mehrbedarf lässt die Fähigkeit zum Selbstunterhalt nicht entfallen, wenn dieser bei einer vorausschauenden Bedarfsplanung durch Aufteilung auf einen angemessenen vorangegangenen Zeitraum aufgefangen werden kann. Ist das Kind danach trotz seiner Behinderung in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, und sei es durch Sozialleistungen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu.
2. Die Klägerin vertrat demgegenüber die Ansicht, die Heranziehung der Eltern zu einem Unterhaltsbeitrag indiziere die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt (so Finke, DStR 2016, 2593). Das würde bewirken, dass Kindergeld dann – abhängig von der Höhe ihrer Aufwendungen – den Eltern zustünde oder an den Sozialhilfeträger abgezweigt werden könnte (§ 74 Abs. 1 EStG).
3. Der BFH ist der Klägerin nicht gefolgt und bleibt dabei, dass es allein auf die Vergleichsrechnung ankommt (s. 1.). Denn die Inanspruchnahme der unterhaltspflichtigen Eltern durch den Sozialhilfeträger gemäß § 94 Abs. 2 SGB XII i.V.m. §§ 1601ff. BGB beruht auf bürgerlich-rechtlichen Unterhaltspflichten, die anderen Maßstäben folgen als der steuerliche Familienleistungsausgleich. Während nach § 1610 BGB ein angemessener Unterhalt zu gewähren ist, der sich nach der Lebensstellung des Bedürftigen bestimmt, wird beim Familienleistungsausgleich gemäß § 31 Satz 1 EStG die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrags (nur) i.H.d. Existenzminimums eines Kindes bewirkt.
Weder Art. 3 Abs. 1 noch Art. 6 Abs. 1 GG verlangen, dass der Gesetzgeber Unterhaltsleistungen in der vollen Höhe des bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsanspruchs berücksichtigen müsste. Zivilrechtlich geschuldete Unterhaltsleistungen – sei es an Kinder, Eltern, geschiedene Ehegatten oder die Mutter eines nichtehelichen Kindes – bewirken in vielen Fällen keine oder nur eine teilweise steuerliche Entlastung. Ein Kindergeldanspruch kann auch dann bestehen, wenn die Eltern nicht (mehr) unterhaltspflichtig sind, z.B. wegen Einkünften oder Vermögens des Kindes, und er kann zu verneinen sein, wenn eine zivilrechtliche Unterhaltspflicht (z.B. gegenüber nichtbehinderten Kindern nach Erreichen der Altersgrenze) erfüllt wird.
4. Das Urteil legt umfangreich dar, wie die Vergleichsrechnung im Streitfall vorzunehmen war, d.h. wie sich Grundbedarf und behinderungsbe...