Leitsatz
Es ist ernstlich zweifelhaft, ob der Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 S. 2 EStG auch dann maßgebend sein kann, wenn aufgrund der tatsächlich gezahlten Hilfe zum Lebensunterhalt feststeht, dass der Grundbedarf des behinderten Kindes im konkreten Fall höher liegt.
Sachverhalt
Die Antragstellerin ist Mutter der im Jahr 1982 geborenen Tochter, welche einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 mit den Merkzeichen "B" und aG hat. Im Streitfall hat die Familienkasse die Gewährung von Kindergeld abgelehnt, weil die Einkünfte und Bezüge der Tochter in Form der Hilfe zum Lebensunterhalt den Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 S. 2 EStG überschreiten würden. Im Verfahren über die Rückforderung des Kindergeldes hat die Antragstellerin die Aussetzung der Vollziehung mit der Begründung beantragt, dass bei der Prüfung der Frage, ob sich die Tochter selbst unterhalten könne, von der erhaltenen Sozialhilfe die Kosten der Unterkunft abgezogen werden müssten, und danach der Grenzbetrag nicht überschritten sei.
Entscheidung
Nach Auffassung des FG ist es ernstlich zweifelhaft, ob der Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 S. 2 EStG auch dann maßgebend sein kann, wenn aufgrund der tatsächlich gezahlten Hilfe zum Lebensunterhalt feststeht, dass der Grundbedarf des behinderten Kindes im konkreten Fall wegen der örtlichen Besonderheitenhöher liegt. Der BFH hat hervorgehoben, dass der Gesetzgeber den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nur für die von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nrn. 1 und 2 EStG erfassten Kinder (Volljährigkeit und Arbeitsuche bzw. Beschäftigungslosigkeit, Berufsausbildung, Übergangszeit usw.) festgelegt hat und sich diese gesetzliche Typisierung nicht auf behinderte Kinder erstreckt. Bei einem Kind, das Hilfe zum Lebensunterhalt erhält, entfällt die Fähigkeit, seinen notwendigen Grundbedarf aus eigenen Mitteln bestreiten zu können, wenn bei den Eltern Regress genommen wird und wenn ihm keine weiteren Mittel zur Deckung seines Grundbedarfs zur Verfügung stehen.
Hinweis
Im Verfahren 4 K 4137/09 muss das FG nun entscheiden, ob in den Fällen, in denen ein volljähriges behindertes Kind Hilfe zum Lebensunterhalt bezieht, der Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG maßgeblich ist oder nicht. Nach meiner Auffassung ist auch bei behinderten Kindern unter 25 Jahren zunächst zu prüfen, ob eine Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Nr. 1 und 2 EStG in Frage kommt. In diesen Fällen ist auch der Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG maßgeblich. Erst in einem zweiten Schritt ist dann zu prüfen, ob eine Berücksichtigung als behindertes Kind nach § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG in Frage kommt. Dabei ist dann durch Gegenüberstellung des Kindeseinkommens und dem gesamten Lebensbedarf des Kindes zu prüfen, ob das Kind in der Lage ist sich selbst zu unterhalten.
Link zur Entscheidung
FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 06.09.2010, 4 V 4226/09