Leitsatz
1. Stellt ein Wanderarbeitnehmer, der die Anspruchsvoraussetzungen für einen Kindergeldanspruch im Inland erfüllt, seinen Antrag auf Kindergeld bei der inländischen Familienkasse erst nach Ablauf der in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG vorgesehenen sechsmonatigen Ausschlussfrist, kann sein Auszahlungsanspruch erst abgelehnt werden, wenn festgestellt wird, dass weder der Wanderarbeitnehmer selbst noch eine andere berechtigte Person für das betreffende Kind im Heimatland des Kindes einen die Frist wahrenden Antrag auf Kindergeld oder eine vergleichbare ausländische Familienleistung gestellt haben.
2. Bezieht der Wanderarbeitnehmer oder eine andere berechtigte Person laufend Familienleistungen für das betreffende Kind, genügt es für einen nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG zu berücksichtigenden Antrag auch, dass der Wanderarbeitnehmer oder eine andere berechtigte Person gegenüber dem zuständigen Träger des Heimatlandes innerhalb der Sechsmonatsfrist den durch die in Deutschland ausgeübte Tätigkeit entstandenen grenzüberschreitenden Sachverhalt anzeigt und hierdurch die Durchführung des Koordinierungsverfahrens ermöglicht.
3. Die Feststellungen zum Vorliegen eines Antrags oder einer Mitteilung beim ausländischen Träger sind durch an diesen gerichtetes Auskunftsersuchen zu treffen. Der Anspruchsteller trägt die Feststellungslast (objektive Beweislast) hinsichtlich der Nichterweislichkeit eines entsprechenden Antrags oder einer entsprechenden Mitteilung.
Normenkette
§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG, Art. 68 Abs. 3, Art. 81 VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 987/2009
Sachverhalt
Der Kläger ist rumänischer Staatsangehöriger und war im Zeitraum von März bis Mai 2019 in Deutschland als Arbeitnehmer beschäftigt. Er ist Vater eines 2007 geborenen Sohnes und wurde für 2019 nach § 1 Abs. 3 EStG zur ESt veranlagt.
Die Familienkasse setzte auf den Antrag vom 22.11.2019 Kindergeld für März bis Mai 2019 in Höhe eines Unterschiedsbetrages zwischen dem gesetzlichen Kindergeld und der rumänischen Familienleistung zugunsten des Klägers fest. Die Auszahlung des festgesetzten Kindergeldes wurde jedoch aufgrund des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG, wonach diese nur sechs Monate rückwirkend vor Antragstellung möglich ist, teilweise verweigert; zuletzt nur noch für die Monate März und April 2019.
Das FG wies die dagegen gerichtete Klage als unbegründet ab (FG Nürnberg, Urteil vom 28.7.2021, 3 K 1589/20, Haufe-Index 14692130).
Entscheidung
Die Revision führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG, das im zweiten Rechtsgang festzustellen hat, ob ein im Hinblick auf § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG beachtlicher Antrag in Rumänien gestellt wurde.
Hinweis
Das europäische Sozialrecht kompliziert nicht selten die Entscheidung vordergründig einfach erscheinender Fälle sowohl in materiell- als auch verfahrensrechtlicher Hinsicht.
1. Der Kläger wandte sich nur gegen die unterbliebene Auszahlung festgesetzten Kindergeldes. Der Streit betraf somit eine Abrechnungsentscheidung der Familienkasse i.S.d. § 218 Abs. 2 AO. Insoweit ist unerheblich, ob es sich bei der Verfügung der Familienkasse zur "Nachzahlung" im Abrechnungsteil des Kindergeldbescheids um einen förmlichen Abrechnungsbescheid i.S.d. § 218 Abs. 2 AO handelt.
2. Das FG hat hinsichtlich der sechsmonatigen Frist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG zu Unrecht nur den bei der deutschen Familienkasse gestellten Antrag berücksichtigt, denn das europäische Recht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sieht ein umfassendes Prinzip der europaweiten Antragsgleichstellung vor (Art. 68 Abs. 3 VO (EG) Nr. 883/2004):
- Der Tag der Einreichung des Antrags beim ersten Träger gilt als der Tag der Einreichung bei dem vorrangig zuständigen Träger und umgekehrt (Art. 60 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 987/2009).
- Bei unterbliebener Antragstellung durch einen berechtigten Elternteil ist auch der Antrag des anderen Elternteils, einer als Elternteil behandelten Person oder der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt, zu berücksichtigen (Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009).
In anderen Mitgliedsstaaten gestellte Anträge sind danach jedoch nur zu beachten, sofern sie nach Inkrafttreten der VO Nr. 883/2004 am 1.5.2010 gestellt wurden.
3. Familienkassen und FG müssen folglich bei entsprechenden Anhaltspunkten (auch) im Hinblick auf § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG durch Auskunftsersuchen ermitteln, ob und wann in einem anderen Mitgliedsstaat ein entsprechender Antrag gestellt wurde.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 14.7.2022 – III R 28/21