Leitsatz
Tage, an denen der Steuerpflichtige von einer Geschäftsreise aus dem Drittland tatsächlich an seinen Wohnsitz zurückkehrt, gehören nicht zu den Nichtrückkehrtagen i.S. des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2002. Entsprechendes gilt für Geschäftsreisen an Wochenend- und Feiertagen, sofern die Arbeit an diesen Tagen nicht ausdrücklich im Arbeitsvertrag vereinbart ist und der Arbeitgeber für die an diesen Tagen geleistete Arbeit weder einen anderweitigen Freizeitausgleich noch ein zusätzliches Entgelt gewährt, sondern lediglich die Reisekosten übernimmt. Die anders lautenden Regelungen des § 8 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 5 Satz 2 KonsVerCHEV vom 20.12.2010 verstoßen gegen den Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG).
Normenkette
Art. 15a Abs. 2 Satz 2, Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 Buchst. d DBA-Schweiz 1971/2002, Art. 20 Abs. 3 GG, § 2 Abs. 2 Satz 1 AO, § 8 Abs. 1 Satz 3, Abs. 5 Satz 2 KonsVerCHEV, § 53 Abs. 2, § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO, § 174 ZPO
Sachverhalt
Der Kläger wohnte im Streitjahr 2010 im Inland. Dort war er auch ansässig i.S.d. Art. 4 Abs. 1 DBA Schweiz.
Der Kläger war Arbeitnehmer (Vizedirektor) der X AG, einer Schweizerischen Aktiengesellschaft. Laut Arbeitsvertrag betrug sein Arbeitspensum 40 Stunden pro Woche, verteilt auf Montag bis Freitag. In seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr ging der Kläger von 65 Nichtrückkehrtagen i.S.d. Art. 15a DBA-Schweiz aus, so dass er mit seinen Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit nicht als Grenzgänger der inländischen Besteuerung unterliege. Zu den Nichtrückkehrtagen zählte er sowohl Wochenendtage als auch Tage, an denen er von einer Drittland-Geschäftsreise an seinen inländischen Wohnsitz zurückgekehrt war.
Das FA verneinte ebenfalls die Grenzgängereigenschaft des Klägers und ging hierfür sogar von 67 Nichtrückkehrtagen aus. Mangels Eintragung der Funktion des Vizedirektors in das Handelsregister verneinte das FA allerdings auch die Anwendung des Art. 15 Abs. 4 DBA‐Schweiz. Im Einkommensteuerbescheid 2010 unterwarf es deshalb denjenigen Teil des Arbeitslohns, der auf die Ausübung der Tätigkeit in Drittstaaten oder im Inland entfiel, der inländischen Besteuerung (63/240 des Bruttoarbeitslohns). Die von der Eidgenössischen Steuerverwaltung nach Art. 15a Abs. 1 Satz 2 und 3 DBA-Schweiz einbehaltene Quellensteuer i.H.v. 4,5 % wurde in dem Bescheid nicht berücksichtigt. Den Einspruch des Klägers wies das FA mit der Einspruchsentscheidung vom 27.2.2013 als unbegründet zurück.
Die hiergegen gerichtete Klage hatte im ersten Rechtsgang keinen Erfolg. Nachdem der BFH das FG-Urteil wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben hatte, wies das FG die Klage im zweiten Rechtsgang erneut als unbegründet ab. Entgegen der Auffassung der Beteiligten sei der Kläger im Streitjahr als Grenzgänger i.S.d. Art. 15a DBA‐Schweiz anzusehen und damit der inländischen Einkommensteuer zu unterwerfen. Er habe nicht mehr als 60 Nichtrückkehrtage nachgewiesen (FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, Urteil vom 6.4.2017, 3 K 3729/16, Haufe-Index 10886933).
Entscheidung
Der BFH hat die Revision des Klägers abgewiesen. Er bestätigte die Rechtsauffassung des FG aus den in den Praxis-Hinweisen genannten Gründen.
Hinweis
1. In dieser – wie in der unmittelbar in diesem Heft im Anschluss abgedruckten – Besprechungsentscheidung hat der BFH Regelungen der auf Grundlage des § 2 Abs. 2 AO ergangenen Rechtsverordnung zur Umsetzung der deutsch-schweizerischen Konsultationsvereinbarung als rechtswidrig verworfen und nicht angewendet. Damit hat er sich jeweils auch gegen die Rechtsauffassung des BMF gewendet.
2. Zum Verständnis der Besprechungsentscheidung muss kurz die jüngere Rechtsentwicklung rekapituliert werden:
a) Der BFH hatte zunächst judiziert, dass behördliche Konsultationsvereinbarungen im Sinne des Art. 25 Abs. 3 DBA MAkeine die Steuergerichte bindende Wirkung haben (z.B. BFH, Urteil vom 2.9.2009, I R 111/08, BFH/NV 2009, 2044, BFH/PR 2010, 36, Haufe-Index 2241834).
b) Die Finanzverwaltung konnte den Gesetzgeber daraufhin dafür gewinnen, die AO zu ändern. § 2 Abs. 2 AO ermöglicht es seit dem Jahr 2010, Konsultationsvereinbarungen in den Rang einer Rechtsverordnung zu heben. Selbstverständlich sind Gerichte an Gesetze und an Rechtsverordnungen gebunden.
c) Allerdings haben die Gerichte das Recht, Rechtsverordnungen zu verwerfen, wenn diese gegen förmliches Gesetz verstoßen (Vorrang des Gesetzes). Dies folgt schlicht aus der Normenhierarchie, wonach das förmliche Parlamentsgesetz über Rechtsverordnungen steht.
d) Der BFH hat daher Rechtsverordnungen zur Umsetzung von Konsultationsvereinbarungen (KonsVerVO) i.S.d. § 2 Abs. 2 AO daraufhin überprüft, ob sie den Vorrang des Gesetzes wahren. Als Gesetz ist in diesem Zusammenhang in erster Linie das Zustimmungsgesetz des Bundestages zum jeweiligen DBA zu erwähnen. Mit anderen Worten: Die KonsVerVO darf nichts regeln, was im Widerspruch zum DBA, insbesondere zu dessen Wortlaut steht (vgl. BFH, Urteil vom 10.6.2015, I R 79/13, BFH/...