Entscheidungsstichwort (Thema)
Vermutung der Insolvenzreife
Leitsatz (amtlich)
1. Ist Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung einer GmbH nachgewiesen, ist die Erkennbarkeit der Konkursreife der Gesellschaft für den Geschäftsführer zu vermuten. Der Geschäftsführer hat die Vermutung der Erkennbarkeit der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der Gesellschaft zu widerlegen.
2. Zu den Anforderungen an den Nachweis fehlender Erkennbarkeit der Konkursreife der Gesellschaft für einen nicht mit der kaufmännischen Leitung der Gesellschaft betrauten Geschäftsführer einer GmbH bei bestehendem Beherrschungs-, Gewinnabführungs- und Verlustübernahmevertrag.
Normenkette
GmbHG § 64 Abs. 2; GmbH § 64 Abs. 2; InsO § 17 Abs. 2, § 19 Abs. 2
Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 03.11.2005; Aktenzeichen 3 O 18589/04) |
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des LG München I vom 3.11.2005 wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Zwangsvollstreckung kann der Kläger durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A. Der Kläger macht als Insolvenzverwalter über das Vermögen der S. GmbH (vormals S.D. GmbH; nachfolgend als Gemeinschuldnerin bezeichnet) Ansprüche gegen den Beklagten als Geschäftsführer wegen Zahlungen nach Eintritt der Konkursreife der Gemeinschuldnerin geltend.
Die Gemeinschuldnerin ist ein Unternehmen des S.-Konzerns. Alleinige Gesellschafterin der Gemeinschuldnerin ist die S. Systems AG (nachfolgend als S. AG bezeichnet). Zwischen der Gemeinschuldnerin und der S. AG bestand seit dem 25.3.1999 ein Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag, der erst am 1.8.2002 beendet wurde und auch die Übernahme aller Verluste der Gemeinschuldnerin seitens der S. AG enthielt. Zusätzlich vereinbarten diese Gesellschaften ein sog. Cash-Pool-System, nach dem die S. AG sämtliche Zahlungen für die Gemeinschuldnerin zu leisten hatte und täglich ein Kontoausgleich zwischen der Gemeinschuldnerin und der S. AG vorgenommen werden sollte, wobei streitig ist, ob diese Vereinbarung über den 1.4.2002 hinaus praktiziert worden ist.
Daneben haben die dem S. Konzern Kredit gebenden Banken mit den deutschen und österreichischen Gesellschaften des S. Konzerns am 31.1.2002 einen Vertrag über den Sicherheitenpool und die generellen Kreditbedingungen geschlossen (Anlage K 18, nachfolgend als Poolvertrag bezeichnet), in dem sich die Banken in § 2 untereinander und gegenüber den S. Gesellschaften verpflichteten, die zur Verfügung gestellten Kredite i.H.v. 33,2 Mio. EUR bis 31.5.2002 nicht fällig zu stellen und i.H.v. weiteren 2,7, Mio. EUR bis zum 30.6.2004 aufrecht zu erhalten und den zur Fortführung der Geschäftstätigkeit notwendigen Zahlungsverkehr vorzunehmen, wobei ebenfalls streitig ist, bis zu welchem Zeit diese als "Poolvertrag" bezeichnete Absprache durchgeführt worden ist.
Der Beklagte war von Juni 2001 bis zum 18.6.2002 als Geschäftsführer der Gemeinschuldnerin tätig. Er war für den Aufgabenbereich Produktentwicklung zuständig und hatte keine Kontovollmacht. Daneben war G. R. Geschäftsführer der Gemeinschuldnerin, der auch Vorstandsvorsitzender der S. AG war und auf den S. Konzern, zu dem weitere Firmen, darunter die S. Deutschland GmbH sowie Gesellschaften in Österreich, Frankreich und den USA gehörten, bestimmenden Einfluss hatte.
Von dem Firmenkonto der Gemeinschuldnerin wurden von der Gemeinschuldnerin in der Zeit vom 3.5.2002 bis 24.5.2002 folgende Zahlungen vorgenommen:
24.5.2002 |
10.939,87 EUR |
an A.E. GmbH |
21.5.2002 |
30.600,60 EUR |
an V. Berufsgenossenschaft |
14.4.2002 |
31.787,95 EUR |
an T.-krankenkasse |
13.5.2002 |
7.710,50 EUR |
an B. Ersatzkasse |
3.5.2002 |
6.484,40 EUR |
an O. AG |
Die S. AG hat am 19.2.2007 eine Ad-hoc-Mitteilung (Anlage K 20 S. 3) herausgegeben, in der für die S. Gruppe für das Geschäftsjahr 2001 bei einem Konzernumsatz von 149 Mio. EUR ein durch Einmaleffekte von 139 Mio. EUR beeinflusster erzielter EBIT (= Gewinn vor Zinsen und Steuern) von -163,5 Mio. EUR angegeben war. Diese Angaben wurden in einer Mitteilung des Vorstands der S. Gruppe an die Aktionäre vom gleichen Tag (Anlage zum Protokoll vom 14.2.2007) bestätigt unter Beifügung der untestierten Gewinn- und Verlustrechnung zum 31.12.2001 mit einem Periodenfehlbetrag von 176 Mio. EUR und der Konzernbilanz der S. AG zum 31.12.2001, die auf der Aktiv- und der Passivseite ein ausgeglichenes Ergebnis aufwies.
Am 15.3.2002 endete die Abschlussprüfung der S. AG für das Jahr 2001. Die Prüferin E. & Y. AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Steuerberatungsgesellschaft (nachfolgend: E. & Y. AG) verweigerte das Testat unter Hinweis darauf, dass in dem vorgelegten Bilanzentwurf eine Bewertung nach den Grundsätzen einer Unternehmensfortführung enthalten sei, während die finanzielle Lage der S. AG eine derartige Bewertung nach "Going Concern"-Gesi...