Prof. Rolf-Rüdiger Radeisen
5.3.3.1 Finanzielle Eingliederung juristischer Personen
Rz. 217
Nach der bisherigen nationalen Rechtsprechung liegt die finanzielle Eingliederung einer juristischen Person dann vor, wenn der Organträger im Besitz der entscheidenden Anteilsmehrheit an der Organgesellschaft ist, die es ihm ermöglicht, Beschlüsse in der Organgesellschaft durchzusetzen. Soweit die Stimmrechte den Beteiligungsverhältnissen entsprechen, ist die finanzielle Eingliederung danach dann gegeben, wenn die Beteiligung mehr als 50 % beträgt. Etwas anderes kann sich nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH ergeben, sofern eine höhere qualifizierte Mehrheit für die allgemeine Beschlussfassung in der Organgesellschaft erforderlich ist. Entscheidend ist somit nicht der Umfang der Beteiligung, sondern nur die Stimmrechte, die sich im Einzelfall aus der Beteiligung ergeben. Nur durch die Ausübung der Stimmrechte in der Gesellschafterversammlung lässt sich nach der bisherigen Auffassung des BFH die für die finanzielle Eingliederung notwendige Einflussnahme auf die Kapitalgesellschaft umsetzen. Die Voraussetzung der Mehrheit der Stimmen in der Gesellschafterversammlung resultiert im Wesentlichen aus dem bei Kapitalgesellschaften relevanten Mehrstimmigkeitsprinzip.
Rz. 217a
Die Voraussetzung der finanziellen Eingliederung ist nach der Rechtsprechung des EuGH aber nicht restriktiv auszulegen. Der EuGH hat in seinen Entscheidungen hervorgehoben, dass der Unionsgesetzgeber die Inanspruchnahme der Regelung über die Mehrwertsteuergruppe nicht allein den Einheiten vorbehalten wollte, die in einem Unterordnungsverhältnis zum Organträger der betreffenden Unternehmensgruppe stehen. Zwar kann bei einem solchen Unterordnungsverhältnis vermutet werden, dass zwischen den Einheiten eine enge Verbindung besteht, es kann aber nicht als Voraussetzung angesehen werden. Da der EuGH davon ausgeht, dass im Rahmen der finanziellen Eingliederung die über die Voraussetzung der Mehrheitsbeteiligung hinausgehende Voraussetzung der Stimmenmehrheit nicht von vornherein eine Maßnahme darstellt, die zur Erreichung der Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderlich und geeignet ist, ist eine zusätzliche Voraussetzung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar.
Rz. 217b
Allerdings lässt der EuGH dem BFH zur nationalen Umsetzung eine Hintertür offen: Eine andere Möglichkeit könnte sich in Ausnahmefällen ergeben, in denen eine solche Bedingung wie der Stimmenmehrheit in einem bestimmten nationalen Kontext eine für die Erreichung der Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder -umgehung sowohl erforderliche als auch geeignete Maßnahme ist. Soweit nicht der BFH zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die Voraussetzung der Stimmenmehrheit zur Verhinderung missbräuchlicher Praktiken notwendig ist, ist damit eine Änderung in der praktischen Umsetzung verbunden: Liegt eine Anteilsmehrheit vor, wäre danach die finanzielle Eingliederung gegeben, unabhängig davon, ob sich daraus auch eine Mehrheit der Stimmen (in der Gesellschafterversammlung) ergibt.
Rz. 217c
In der Praxis wird in aller Regel die Anteilsmehrheit und die Stimmenmehrheit einheitlich vorliegen oder gerade nicht. Deshalb wird sich aus dieser Rechtsprechung des EuGH keine massive Veränderung bei den Voraussetzungen der Organschaft ergeben. Es muss aber hinterfragt werden, ob die "Stimmenmehrheit" tatsächlich eine weitere, zusätzliche Tatbestandsvoraussetzung darstellt oder eher eine hinlänglich notwendige Klarstellung zu der Voraussetzung der Anteilsmehrheit ist. Der EuGH nimmt – gewissermaßen am Rande – mit auf, dass die deutsche Regierung auf eine schriftliche Frage des Gerichtshofs festgestellt hatte, dass keine der beiden Anforderungen unbedingt erforderlich ist, solange der Organträger in der Lage sei, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern der Mehrwertsteuergruppe durchzusetzen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Voraussetzung, "seinen Willen durchsetzen zu können" national eher über die Tatbestandsvoraussetzung der organisatorischen Eingliederung konkretisiert wurde. Die Voraussetzung, "seinen Willen bei den anderen Mitgliedern der Mehrwertsteuergruppe durchzusetzen", könnte allerdings insoweit selbst wieder als eine zusätzliche Voraussetzung oder eben als erläuternde Umsetzung der "engen finanziellen Verbundenheit" i. S. d. Art. 11 MwStSystRL angesehen werden. Dann würde sich wiederum die Frage stellen, wie eine Durchsetzung des Willens ohne eine Stimmenmehrheit erfolgen soll. Gerade eine zu allgemeine, jeweils im Einzelfall zu prüfende Voraussetzung, ob jetzt tatsächlich der Wille durchsetzbar ist, wenn keine allgemeine Stimmrechtsmehrheit (aber Anteilsmehrheit) vorliegt – in diesen Fällen wäre zumindest im Einzelfall wieder die Möglichkeit der missbräuchlichen Praktiken zu prüfen –, würde in der Praxis kaum rechtssicher umzusetzen sein. Allerdings könnte die Vorgabe des EuGH auch anders umgesetzt wer...