Rz. 85
Obwohl sämtliche handelsrechtlichen Passivierungsgebote generell in der Steuerbilanz nachzuvollziehen sind, existieren im Bereich von § 5 Abs. 3–4 EStG und von § 6a EStG Verben wie "dürfen" bzw. "darf" sowie restriktivere Voraussetzungen für eine Rückstellungsbildung, die auf einen bilanzpolitischen Spielraum hindeuten. Alle in Rede stehenden Rückstellungen verkörpern dabei Anwendungsfälle von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten i. S. v. § 249 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 HGB (Außenverpflichtungen).
Rz. 86
Gem. § 5 Abs. 3 EStG dürfen Rückstellungen wegen Verletzung fremder Patent-, Urheber- oder ähnlicher Schutzrechte aufgrund der Nutzung einer offengelegten, jedoch noch ungeschützten Erfindung erst gebildet werden, wenn der Rechtsinhaber Ansprüche wegen einer Rechtsverletzung geltend gemacht hat oder mit einer Inanspruchnahme wegen einer Rechtsverletzung ernsthaft zu rechnen ist, falls bislang noch keine Ansprüche geltend gemacht wurden. In letzterem Fall ist die Rückstellung spätestens im 3., ihrer erstmaligen Bildung folgenden Wirtschaftsjahr aufzulösen, falls bis zur Bilanzaufstellung keine Ansprüche geltend gemacht wurden. Dies kann beispielsweise dann vorliegen, wenn der Rechtsinhaber gute Geschäftsbeziehungen zum Rechtsverletzer unterhält oder von diesem finanziell abhängig ist. Analoges gilt für die permanente Verletzung von Schutzrechten, d. h. die abermalige Passivierung wegen wiederholter Verletzung desselben Schutzrechts ist unzulässig.
Rz. 87
Rückstellungen für die Verpflichtung zu einer Zuwendung anlässlich eines Dienstjubiläums dürfen gem. § 5 Abs. 4 EStG nur gebildet werden, falls das Dienstverhältnis ununterbrochen mindestens 10 Jahre bestand, das Dienstjubiläum das Bestehen eines Dienstverhältnisses von mindestens 15 Jahren voraussetzt, die Zusage schriftlich erteilt wurde und der Begünstigte seine Anwartschaft nach dem 31.12.1992 erwarb (kumulative Erfüllung!). Auch hier ist eine Passivierung nur dann zulässig, wenn der Steuerpflichtige ernsthaft damit rechnen kann, aus der Zusage auch tatsächlich in Anspruch genommen zu werden.
Rz. 88
Die Bildung von Pensionsrückstellungen ist in § 6a EStG geregelt. Solche dürfen hiernach passiviert werden, falls ein Rechtsanspruch auf einmalige oder laufende Pensionsleistungen für den Pensionsberechtigten besteht, die Pensionszusage die Pensionsleistungen nicht von künftigen gewinnabhängigen Bezügen abhängig macht und kein Vorbehalt zur Minderung oder zum Entzug der Pensionsanwartschaft respektive der Pensionsleistung besteht sowie die Zusage schriftlich erteilt wurde. Letztere muss eindeutig Art, Form, Voraussetzungen und Höhe der Pensionsleistungen regeln.
Rz. 89
Die gesetzlichen Formulierungen bei obigen Rückstellungsarten werfen die Frage auf, ob diese als steuerliche Wahlrechte i. S. v. § 5 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz EStG aufzufassen sind, d. h. ob deren von der handelsrechtlichen Passivierungspflicht losgelöste Bilanzierung als zulässig erscheint. Der Bundesrat schlug im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zum Jahressteuergesetz 2010 vor, die Begriffe "dürfen" bzw. "darf" in "sind" bzw. "ist" zu ändern, um klarzustellen, dass für diese Rückstellungen bei Erfüllung der jeweiligen Prämissen eine steuerliche Passivierungspflicht herrscht. Dies lehnte die Bundesregierung mit der Begründung ab, die Passivierungspflicht ergäbe sich aus der derzeitigen Gesetzessystematik. Folglich ist eine eigenständige Steuerbilanzpolitik hinsichtlich der 3 Rückstellungsarten nur in Form der Sachverhaltsgestaltung und nicht der Sachverhaltsabbildung möglich. Die gleiche Meinung vertritt das BMF, das in seinem Schreiben v. 12.3.2010 explizit zwar nur die Pensionsrückstellungen erwähnt, wobei Entsprechendes m. E. auch für die Rückstellungen i. S. v. § 5 Abs. 3–4 EStG gelten sollte. Nach Ergehen des BilMoG sprach sich die h. M. zutreffend gegen eine autonome steuerliche Wahlrechtsausübung aus und bekräftigte simultan obige Ausführungen. Jene Auffassung läuft auch mit R 5.7 Abs. 1 Satz 1 EStR 2012, R 6a Abs. 1 Satz 2 EStR 2012 sowie mit der BFH-Rechtsprechung konform, welche (für Pensionsrückstellungen) eine Passivierungspflicht vorbehaltlich den zusätzlichen Erfordernissen von § 6a EStG aus den GoB ableitet.
Rz. 90
Da kein klassisches Wahlrecht, sondern ein steuerlicher Ansatzvorbehalt (und evtl. Bewertungsvorbehalt) besteht (R 5.7 Abs. 1 Satz 1 EStR 2012), ist es beispielsweise möglich, durch das Unterlassen einer schriftlichen Zusage die Passivierung von Rückstellungen für Dienstjubiläen und Pensionsrückstellungen steuerlich zu verhindern und das Maßgeblichkeitsprinzip zu durchbrechen, da eine handelsrechtliche Passivierungspflicht losgelöst von einer solchen Bedingung resultiert. Ähnliches gilt auch auf Ebene der Bewertung für Pensionsrückstellungen. Aus steuerbilanzpolitischer Sicht sollte eine Rückstellungsbildung aufgrund der damit verbundenen Generierung von Aufwendungen erstrebenswert sein. Warum das BMF bei Erfüllung der...