Eine vollständige, langfristige Absicherung gegen sämtliche Beschaffungsrisiken ist bei unvorhergesehenen Risiken der Unternehmensumwelt ex-ante unmöglich. Außerdem ist eine "vollständige" Absicherung durch Redundanz (Backup-Lieferanten, Sicherheitsbestände) extrem teuer. Darüber hinaus verdeutlichen die zunehmenden Kosten von Lieferkettenunterbrechungen die Notwendigkeit, die vorgelagerte Lieferkette vor betrieblichen und finanziellen Schäden besser zu schützen, um den Trade-off zwischen effizienter Belieferung einerseits und Risikoreduktion (Effizienz versus Redundanz) andererseits möglichst effektiv zu gestalten. Dafür ist ein reaktives Lieferanten-Risikomanagement notwendig. Eine erfolgreiche Reaktion auf kritische Lieferanten kann somit als Quelle von Wettbewerbsvorteilen angesehen werden.
Um ein effektives reaktives Lieferanten-Risikomanagement umzusetzen, müssen Antworten auf folgende Problemstellung gefunden werden: Was tun, wenn ein wichtiger Lieferant auszufallen droht oder bereits ausgefallen ist?
Abb. 5: Reaktionsrahmen auf Lieferantenkrisen
Abbildung 5 zeigt einen strukturierten, idealtypischen Ansatz zur Reaktion auf (drohenden) Lieferantenausfall. Bevor auf die einzelnen Phasen näher eingegangen wird, muss betont werden, dass Lieferantenkrisen in der Regel das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses des Niedergangs sind (Abbildung 2). Daher kann davon ausgegangen werden, dass ein rechtzeitiges Gegensteuern die Wirksamkeit des Reaktionsrahmens und seiner Gegenmaßnahmen deutlich erhöht. Rechtzeitiges Gegensteuern eröffnet sowohl dem Lieferanten als auch dem einkaufenden Unternehmen einen größeren Handlungsspielraum. Die Beendigung einer Lieferantenbeziehung ist am wahrscheinlichsten, wenn die Kosten und das Risiko des Ausstiegs gering sind. Daher neigt ein Käufer dazu, den Lieferanten zu wechseln, wenn er nur wenig Bindung an den notleidenden Lieferanten hat und es daher einfacher und effizienter ist zu gehen als zu bleiben. Entscheidende Voraussetzung für die Beendigung einer Lieferantenbeziehung ist, dass schnell ein Alternativlieferant gefunden werden kann. Darüber hinaus ist die Beendigung einer Lieferantenbeziehung eine Option, wenn das einkaufende Unternehmen keine Verbesserungschancen sieht und die technologische Differenzierung des Lieferanten gering ist. Die Beendigung einer Lieferantenbeziehung sendet ein negatives Signal an andere Stakeholder des notleidenden Lieferanten – Mitarbeiter, Gläubiger oder Unterlieferanten. Folglich könnte ein Teufelskreis ausgelöst oder beschleunigt werden, der für das einkaufende Unternehmen riskant sein kann, wenn es zu langsam ist, sein gesamtes Geschäft auf einen oder mehrere alternative Lieferanten zu verlagern. Der Reaktionsrahmen (Abbildung 5) ist für einen vom Lieferanten abhängigen Einkauf konzipiert, sodass ein Lieferantenwechsel ein erhebliches finanzielles (Kosten) oder operatives (Produktionsausfall) Risiko bedeutet. In diesem Fall sollte ein einkaufendes Unternehmen -egal welcher Größe- 3 Schritte befolgen (Abbildung 5):
3.1 Schritt 1: Stabilisierung
Zunächst gilt es, die kurzfristige Belieferung sicher zu stellen. Da andere einkaufende Unternehmen in der Regel die gleiche Strategie des Aufbaus von Sicherheitsbeständen verfolgen, ist ein Lieferengpass wahrscheinlich, insbesondere wenn der notleidende Lieferant Wartungskosten verschoben hat, Schlüsselpersonal verloren hat und/oder von seinen Unterlieferanten auf Vorauszahlungen gesetzt wurde. Der Aufbau von Sicherheitsbeständen ist jedoch unerlässlich, da er die Anfälligkeit verringert und den Spielraum für Gegenmaßnahmen des Käufers, wie z. B. einen Lieferantenwechsel, erhöht.
3.2 Schritt 2: Analyse
Parallel zur Einleitung der Sicherheitsbestandserhöhung sollte das einkaufende Unternehmen den lieferantenseitigen Wertschöpfungsprozess analysieren und diesen möglichst im Hinblick auf die eigene Belieferung absichern. Zum Beispiel könnte das Eigentum der Produktionswerkzeuge und -ausrüstung überprüft werden, da lieferantenseitige Produktionswerkzeuge häufig Sonderanfertigungen sind, um hochindividualisierte Produkte herzustellen. Sie stellen also Wechselbarrieren zu Alternativlieferanten dar. Übernimmt das einkaufende Unternehmen diese Werkzeuge, kann der kritische Lieferant finanziell unterstützt werden und gleichzeitig die eigene Produktion abgesichert werden. Im Falle einer Lieferanteninsolvenz kann ein Insolvenzverwalter die bereits gekauften Werkzeuge nicht mehr nutzen, um Zugeständnisse vom einkaufenden Unternehmen zu erzwingen. Eine ähnliche Vorgehensweise gilt beispielsweise für geistiges Eigentum (Patente) des Lieferanten, welche das einkaufende Unternehmen, im Zusammenspiel von Einkauf und Controlling sowie weiterer Fachabteilungen, zur Absicherung der eigenen Belieferung erwerben könnte.
Entscheidet sich das einkaufende Unternehmen für eine kurzfristige Finanzierung, um den notleidenden Lieferanten zu unterstützen, ist der Kauf von Produktionswerkzeugen und -ausrüstung sowie Patenten ein geschickter Weg, um dem notleidenden Lieferanten Liq...