Leitsatz
Die Beschränkung der Auszahlung festgesetzten Kindergelds durch § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ist verfassungsrechtlich unbedenklich.
Normenkette
§ 70 Abs. 1 Satz 2, § 31 EStG, § 66 Abs. 3 EStG a.F.
Sachverhalt
Wegen des mitgeteilten Ausbildungsabschlusses hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für den 1995 geborenen Sohn S der Klägerin ab Februar 2017 auf.
Mit ihrem am 30.7.2019 eingegangenen Antrag beanspruchte die Klägerin rückwirkend Kindergeld, weil S seit 2014 ein ausbildungsbegleitendes Studium absolviert habe. Die Familienkasse setzte das Kindergeld antragsgemäß fest und wies im Bescheid darauf hin, dass wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG eine Auszahlung erst ab Januar 2019, d.h. für die letzten sechs Monate vor Antragstellung, erfolgen könne.
Im Laufe des dagegen gerichteten Klageverfahrens erließ die Familienkasse den streitgegenständlichen Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 AO). Darin entschied sie, dass eine Kindergeldauszahlung für Februar 2017 bis Dezember 2018 wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht erfolgen könne.
Die u.a. mit der Verfassungswidrigkeit des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG begründete Klage wurde vom FG als unbegründet abgewiesen (FG Münster, Urteil vom 21.5.2021, 4 K 3164/20 AO, Haufe-Index 14677914).
Entscheidung
Die Revision war unbegründet, da die Familienkasse § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG richtig angewandt hatte und die Vorschrift verfassungsgemäß ist.
Hinweis
1. Auf nach dem 18.7.2019 eingehende Anträge wird festgesetztes Kindergeld rückwirkend nur für sechs Monate vor Beginn des Monats ausgezahlt, in dem der Antrag eingegangen ist (§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG i.V.m. § 52 Abs. 50 EStG). Die Festsetzung des Kindergelds bleibt durch die Ausschlussfrist unberührt.
2.§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG hat § 66 Abs. 3 EStG a.F. ersetzt, der regelte, dass "das Kindergeld ... rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt (wird), in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist".
§ 66 Abs. 3 EStG a.F. betraf – entgegen der Ansicht der Finanzverwaltung – das Festsetzungs- und nicht das Erhebungsverfahren und war nicht verfassungswidrig (BFH, Urteil vom 9.9.2020 III R 37/19, BFH/NV 2021, 449):
- Soweit das Kindergeld der Förderung der Familie dient (§ 31 Satz 2 EStG), ist die Obliegenheit, Kindergeld innerhalb von sechs Monaten nach Entstehung des Anspruchs zu beantragen, nicht zu beanstanden.
- § 66 Abs. 3 EStG a.F. war auch nicht wegen der durch Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG gebotenen Steuerfreistellung des Existenzminimums des Kindes verfassungswidrig, denn ein aufgrund der Anwendung der Frist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. ausgeschlossener und nicht festsetzungsverjährter Kindergeldanspruch ist bei der Günstigerrechnung und der Hinzurechnung nach § 31 Satz 4 EStG nur i.H.v. null EUR zu berücksichtigen (BFH, Urteil vom 26.5.2021, III R 50/19, BFH/NV 2022, 68, BStBl II 2022, 58). Dem Steuerpflichtigen verbleibt mithin der Kinderfreibetrag und der Freibetrag für den Betreuungs‐, Erziehungs- und Ausbildungsbedarf, ohne dass die tarifliche ESt um den Anspruch auf nicht ausgezahltes Kindergeld erhöht würde.
3. Die Verfassungsmäßigkeit des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ist ebenso zu bejahen wie die des durch ihn ersetzten § 66 Abs. 3 EStG a.F. Die Vorschrift bewirkt ebenfalls, dass Steuerpflichtige nur Kindergeld erhalten, das sie innerhalb von sechs Monaten beantragt haben. Insoweit ist unerheblich, dass § 66 Abs. 3 EStG a.F. bereits der Festsetzung zuvor entstandener Kindergeldansprüche entgegenstand, während § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG lediglich ein spezialgesetzliches Auszahlungshindernis begründet.
- Soweit das Kindergeld der Förderung der Familie dient (§ 31 Satz 2 EStG), ist die sich aus § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ergebende Obliegenheit, Kindergeld innerhalb von sechs Monaten nach Entstehung des Anspruchs zu beantragen, ebenso wenig zu beanstanden wie die aus § 66 Abs. 3 EStG a.F.
- Ein Verstoß gegen das Gebot der Steuerfreistellung des Existenzminimums des Kindes ist ausgeschlossen, denn ein festgesetzter und aufgrund des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht ausgezahlter Anspruch auf Kindergeld bleibt nach dem erstmals im VZ 2019 anzuwendenden § 31 Satz 5 EStG bei der Steuerfreistellung und der Hinzurechnung nach § 31 Satz 4 EStG unberücksichtigt. Diese klare und ausdrückliche gesetzliche Regelung ist für die Kindergeldberechtigten noch rechtssicherer und damit günstiger als die ansonsten erforderliche verfassungskonforme Auslegung des § 31 Satz 4 EStG.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 22.9.2022 – III R 21/21