Entscheidungsstichwort (Thema)
Versteuerung privater Wertpapierveräußerungsgeschäfte im Jahr 1999 verfassungsgemäß
Leitsatz (amtlich)
Die Besteuerung von Einkünften aus privaten Veräußerungsgeschäften i.S. des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG in der Fassung ab 1999 ist verfassungsgemäß.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1; AO 1977 § 93 Abs. 7, § 93b; EStG § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, §§ 24c, 45d; KWG § 24c
Verfahrensgang
Nachgehend
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erwarb und veräußerte im Streitjahr (1999) Wertpapiere und erzielte daraus Gewinne, die er neben weiteren hier nicht streitigen Einkünften in der Einkommensteuerveranlagung als Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften in Höhe von 70 276 DM erklärte. Diese Einkünfte legte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) erklärungsgemäß dem Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr zugrunde.
Mit seinem hiergegen gerichteten Einspruch machte der Kläger u.a. einen Verlust aus einem im Februar des Streitjahres stattgefundenen Umtausch von dreihundert im September des Jahres 1998 erworbenen Inhaberaktien der D AG in Aktien der H AG in Höhe von insgesamt 4 881,44 DM geltend, der sich aus der Differenz zwischen dem Kaufpreis der D-Aktien einschließlich Provision und Courtage und dem Kurswert dieser Aktien im Zeitpunkt des Umtausches ergab.
Das FA wies den Einspruch in Bezug auf diesen Streitpunkt zurück, weil die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften, bei der den Anteilseignern der übertragenden Kapitalgesellschaft Anteile an der übernehmenden Kapitalgesellschaft gewährt würden, zwar auf der Ebene der betreffenden Anteilseigner zu einem Veräußerungsgeschäft führe, jedoch nach § 13 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 des Umwandlungssteuergesetzes (UmwStG) die Anteile an der übertragenden Kapitalgesellschaft als zu den Anschaffungskosten veräußert gälten, so dass sich per Saldo weder ein Veräußerungsgewinn noch ein Veräußerungsverlust ergebe. Der Vorgang sei zwingend erfolgsneutral.
Mit seiner Klage machte der Kläger vor allem die Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Streitjahres (1999) ―EStG― geltend. Auch in dieser Fassung leide die Vorschrift unter einem strukturellen Vollzugsdefizit entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. März 2004 2 BvL 17/02 (BGBl I 2004, 591, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56).
Das Finanzgericht (FG) schloss sich diesen verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Norm in seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 1840 veröffentlichtem Urteil nicht an. In Bezug auf den geltend gemachten Verlust aus dem Umtausch der D-Aktien in Aktien der H-AG folgte das FG den Wertungen des FA. Es liege bereits kein Veräußerungsgeschäft vor, weil die Aktien im Rahmen einer echten Verschmelzung getauscht worden seien. Es gälten die Grundsätze des sog. Tauschgutachtens (Bundesfinanzhof ―BFH― vom 16. Dezember 1958 I D 1/57 S, BFHE 68, 78, BStBl III 1959, 30; vgl. auch BFH-Urteil vom 28. März 1979 I R 194/78, BFHE 128, 499, BStBl II 1979, 774, unter 1. c).
Auch mit seiner Revision rügt der Kläger die Verfassungswidrigkeit von § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Mehrere Finanzgerichte hätten die Verfassungsmäßigkeit der Norm in Zweifel gezogen. Am strukturellen Vollzugsdefizit habe sich durch die Regelungen des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 nichts geändert. Weder die Verlängerung der Haltefrist noch die Möglichkeit des Verlustvor- und -rücktrages führten zu einer Verifikation der Erklärungen.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und den angefochtenen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1999 vom 23. Januar 2002 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 3. April 2002 dahin zu ändern, dass keine Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften angesetzt werden.
Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Begründung trägt es vor, die Revisionsschrift genüge nicht den Anforderungen des § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Sie lasse nicht erkennen, dass sich der Kläger mit den Gründen des vorinstanzlichen Urteils auseinander gesetzt habe, und zwar insbesondere nicht mit der darin angesprochenen Wechselwirkung zwischen der geänderten materiellen Rechtslage und der ab dem Jahre 2000 eingetretenen negativen Kursentwicklung.
Durch Beschluss vom 9. Juni 2005 IX R 49/04 (BFHE 209, 548, BStBl II 2005, 611) hat der erkennende Senat das Bundesministerium der Finanzen (BMF) zum Beitritt aufgefordert und es gebeten, folgende Fragen zu beantworten:
"1. Macht die Finanzverwaltung vom Kontenabruf gemäß § 93 Abs. 7 i.V.m. § 93b der Abgabenordnung (AO 1977) auch für den Veranlagungszeitraum 1999 Gebrauch, und wenn ja, in welchem Umfang?
2. Welche Auswirkungen hat die ab dem Jahr 1999 geltende erweiterte Möglichkeit des Ausgleichs von Gewinnen aus Veräußerungsgeschäften nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG durch entsprechende Verluste auf die Ermittlungstätigkeit der Finanzbehörden?"
Mit Schriftsatz vom 14. Juli 2005 hat das BMF gemäß § 122 Abs. 2 FGO den Beitritt zum Revisionsverfahren erklärt. In seiner Stellungnahme führt das BMF im Wesentlichen aus, die Finanzverwaltung mache vom Kontenabrufverfahren nach anfänglicher Zurückhaltung in zunehmendem Maße Gebrauch. Zwar könne mangels getrennt nach Veranlagungszeiträumen erhobenen Daten nicht genau festgestellt werden, ob und inwieweit auch für das Streitjahr Konten automatisiert abgerufen würden; indes erfahre die Behörde durch den Kontenabruf, bei welchem Kreditinstitut der Betroffene ―auch im Jahr 1999― ein Konto oder Depot unterhalte und welche Nummer dieses Konto oder Depot trage, so dass auch steuerliche Erkenntnisse für weit zurückliegende Veranlagungszeiträume gewonnen werden könnten. Dies könne für den Veranlagungszeitraum des Streitjahres zu einer Änderung der Steuerfestsetzung führen, wenn im Zuge weiterer Ermittlungen eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung festgestellt werde. Die Änderungen des materiellen Rechts (Verlängerung der Veräußerungsfrist, Möglichkeiten der Verlustverrechnung) hätten zu einem Anstieg der staatlichen Einkünfte im Streitjahr auf ca. 1,2 Mrd. € geführt. Die Länderfinanzverwaltungen hätten ihre Ermittlungstätigkeit intensiviert. Auch das Kontrollverfahren nach § 45d EStG veranlasse die Finanzbehörden zur Ermittlung von Einkünften aus Wertpapierveräußerungsgeschäften.
Das BMF hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 FGO zurückzuweisen.
1. Die Revision ist zulässig. Die Revisionsbegründung entspricht (noch) den Anforderungen des § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a FGO. Danach muss die Begründung die Angabe der Revisionsgründe enthalten, und zwar die bestimmte Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt. Der Kläger hat sich entgegen der Auffassung des FA ―wenn auch kurz― mit der tragenden Begründung des FG befasst. Er hat nämlich ausgeführt, das "Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002" habe in Bezug auf das Vollzugsdefizit "keine Besserung gebracht, da weder die Verlängerung der Haltefrist noch die Möglichkeit des Verlustvor- u. -rücktrages eine weitergehende Verifikation der Erklärungen des Steuerpflichtigen erbracht" habe. Dies genügt vor dem Hintergrund des allgemeinen und auch vom Kläger in Bezug genommenen Diskussionsstandes.
2. Die Revision ist aber unbegründet. Zutreffend hat das FG die Einkünfte des Klägers aus der Veräußerung von Wertpapieren nach § 22 Nr. 2 i.V.m. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG der Besteuerung unterworfen und dabei einen Verlust aus dem Umtausch der D-Aktien in Aktien der H-AG nicht berücksichtigt. Denn nach § 13 Abs. 2 Satz 1 UmwStG gelten die Anteile an der übertragenden Körperschaft als zu den Anschaffungskosten veräußert und die an ihre Stelle tretenden Anteile als mit diesem Wert erworben (vgl. dazu auch Schmitt/Hörtnagl/Stratz, Umwandlungssteuergesetz, 3. Aufl., § 13 Rz. 4).
§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Ein ―hier allein in Betracht kommender― Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) wegen struktureller Vollzugshindernisse liegt nicht vor.
a) Art. 3 Abs. 1 GG verlangt für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Wird die Gleichheit im Belastungserfolg durch die rechtliche Gestaltung des Erhebungsverfahrens prinzipiell verfehlt, kann dies die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Besteuerungsgrundlage nach sich ziehen. Verfassungsrechtlich verboten ist der Widerspruch zwischen dem normativen Befehl der materiell pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf Durchsetzung angelegten Erhebungsregel. Zur Gleichheitswidrigkeit führt nicht ohne weiteres die empirische Ineffizienz von Rechtsnormen, wohl aber das normative Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten Rechts (so BVerfG in BGBl I 2004, 591, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56).
b) Ein derartiges normatives Defizit bei den Erhebungsregeln besteht jedenfalls nach der Einführung des sog. Kontenabrufverfahrens nicht mehr.
aa) Nach § 93 Abs. 7 AO 1977 kann das Finanzamt bei den Kreditinstituten über das Bundesamt für Finanzen einzelne Daten aus den nach § 93b Abs. 1 AO 1977 zu führenden Dateien abrufen, wenn dies zur Festsetzung oder Erhebung von Steuern erforderlich ist und ein Auskunftsersuchen an den Steuerpflichtigen nicht zum Ziele geführt hat oder keinen Erfolg verspricht. Welche Daten dies sind, ergibt sich aus § 24c des Kreditwesengesetzes (KWG). Danach müssen die Kreditinstitute eine Datei führen, in der sie die in dessen Abs. 1 Nr. 1 und 2 genannten Daten speichern, nämlich die Nummer eines Kontos, das der Verpflichtung zur Legitimationsprüfung i.S. des § 154 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 unterliegt, oder eines Depots sowie der Tag der Errichtung und der Tag der Auflösung und der Name, sowie bei natürlichen Personen der Tag der Geburt, des Inhabers und eines Verfügungsberechtigten sowie der Name und die Anschrift eines abweichend wirtschaftlich Berechtigten (§ 8 Abs. 1 des Gesetzes über das Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten).
Aufgrund dieser Rechtsgrundlagen können die Finanzbehörden nach näherer Maßgabe der im Zusammenhang mit diesen Vorschriften erlassenen Verwaltungsanweisungen, die im durch BMF-Schreiben vom 10. März 2005 (BStBl I 2005, 422) geänderten Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) enthalten sind und die §§ 92 und 93 AO 1977 (Auskunftsersuchen; Kontenabruf) betreffen, bei den Kreditinstituten die o.g. Daten abrufen, wenn dies zur Festsetzung oder Erhebung von Steuern erforderlich ist. Der einzelfallbezogene, bedarfsgerechte und gezielte Zugriff auf Kontostammdaten verschafft der Finanzbehörde zunächst zwar nur die Kenntnis über das Bestehen von Konten (BTDrucks 15/1309, S. 2) und damit noch nicht die zur Ermittlung der für belastende Maßnahmen hinreichenden Tatsachen. Er ermöglicht aber weitere Ermittlungen, um sie aufzufinden. Denn nur dann, wenn das Finanzamt erfahren hat, bei welchem Kreditinstitut der Steuerpflichtige ein Konto oder ein Depot unterhält, kann es vom Kreditinstitut nach § 93 Abs. 1 AO 1977 Auskunft über Konten- oder Depotbewegungen verlangen. Deshalb führt die Kontenabfrage zur Effektivierung bestehender Ermittlungsmöglichkeiten (BVerfG, Beschluss vom 22. März 2005 1 BvR 2357/04, 1 BvQ 2/05, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 2005, 1179, Der Betrieb ―DB― 2005, 754, m.w.N.).
Dieses Verfahren führt zu einer umfassenden Verifizierung der vom Steuerpflichtigen zu erklärenden Einkünfte aus der Veräußerung von Wertpapieren, so dass von einem strukturellen Vollzugsdefizit nicht (mehr) auszugehen ist. Zwar können Finanzbehörden Konten und Depots nicht routinemäßig oder stichprobenhaft abrufen, sondern nur, wenn dies im Einzelfall zur Festsetzung oder Erhebung von Steuern erforderlich ist. Dabei ist indes ein begründeter Verdacht steuerrechtlicher Unregelmäßigkeiten nicht notwendig (vgl. Stahl, Kölner Steuerdialog ―KÖSDI― 7/2005, 14704 ff., m.w.N.); ein hinreichender Anlass für Ermittlungsmaßnahmen ist schon dann zu bejahen, wenn auf Grund konkreter Anhaltspunkte oder auf Grund allgemeiner Erfahrungen die Möglichkeit einer Steuerverkürzung in Betracht kommt (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 16. Juli 2002 IX R 62/99, BFHE 199, 451, BStBl II 2003, 74, unter B. III. 3. d am Ende; vgl. auch AEAO zu § 93 Abs. 7 AO 1977 Nr. 2). So kann die ungeklärte Herkunft von Eigenmitteln ebenso einen Kontenabruf angezeigt sein lassen, wie z.B. das (jahrelange) Halten eines Depots, ohne dass private Veräußerungsgeschäfte deklariert wurden.
Allerdings bestehen ―wie in der mündlichen Verhandlung hervorgehoben― Ermittlungsprobleme bei Kontendaten über die Grenze. Um die Besteuerung von Einkünften aus ins Ausland verlagertem Kapitalvermögen sicherzustellen, hat die Finanzverwaltung indes nach Auffassung des BVerfG (in BGBl I 2004, 591, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56, unter C. III. 3. c dd) im Rahmen von Steuerfahndungsmaßnahmen nicht unerhebliche Anstrengungen unternommen. Dabei ist sie nach § 90 Abs. 2 AO 1977 auf eine erhöhte Mitwirkung des Steuerpflichtigen angewiesen und muss ―soweit diese nicht zu erlangen ist― besondere Mittel zur Verifikation einsetzen (vgl. zur Umsetzung der EU-Zinsrichtlinie 2003/48/EG des Rates vom 3. Juni 2003, ABlEU L 157 vom 26. Juni 2003 S. 38 das BFH-Urteil vom 7. September 2005 VIII R 90/04, Deutsches Steuerrecht ―DStR― 2005, 1984, und das BMF-Schreiben vom 6. Januar 2005, BStBl I 2005, 29). Ein insoweit noch verbleibendes Erhebungsdefizit ist jedenfalls dem deutschen Gesetzgeber nicht zurechenbar.
bb) Aufgrund des Kontenabrufverfahrens können Erkenntnisse auch bezogen auf das Streitjahr 1999 gewonnen werden.
(1) Zwar wurde § 24c KWG erst durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz vom 21. Juni 2002 (BGBl I 2002, 2010) in das Kreditwesengesetz eingefügt und gilt nach § 64f Abs. 6 KWG in der Fassung des Vierten Finanzmarktförderungsgesetzes ab dem 1. April 2003. Das bedeutet aber nur, dass die Kreditinstitute erst ab diesem Zeitpunkt die Dateien anlegen müssen. Die Daten, die diese Dateien enthalten, betreffen aber auch Sachverhalte der Vergangenheit, z.B. Tatsachen aus dem Veranlagungszeitraum des Streitjahres. So kann in die Datei des Kreditinstituts die Nummer eines Depots aufgenommen werden, das bereits im Jahr 1999 oder vorher errichtet worden ist (§ 24c Abs. 1 Nr. 1 KWG) sowie der Name des steuerpflichtigen Verfügungsberechtigten (§ 24c Abs. 1 Nr. 2 KWG).
(2) Das Kontenabrufverfahren (§ 93 Abs. 7, § 93b AO 1977) selbst ist erst mit Wirkung ab dem 1. April 2005 eingeführt worden. Das Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit vom 23. Dezember 2003 (BGBl I 2003, 2928) hat in seinem Art. 2 die AO 1977 an § 24c KWG angepasst. Der Vollzug muss im Einzelfall zwar regelmäßig noch innerhalb des Laufs einer vierjährigen Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO 1977) gelingen. Da die Festsetzungsfrist bei hinterzogenen Steuern nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 zehn Jahre beträgt ―und die Steuer auf nicht erklärte Veräußerungsgeschäfte ist regelmäßig objektiv hinterzogen (vgl. dazu BFH-Urteil vom 4. Mai 2004 VII R 64/03, BFH/NV 2004, 1516)―, können die Finanzbehörden für den Veranlagungszeitraum des Streitjahres noch ermitteln. Sie können direkt Daten aus dem Jahre 1999 abrufen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Steuerpflichtige Veräußerungsgeschäfte nicht deklariert hat. Sie können auch aus Anlass späterer Veranlagungsarbeiten dazu gelangen, dass ein Abrufverfahren für 1999 angezeigt ist. So verhält es sich, wenn sie z.B. bei der Veranlagung der Einkommensteuer für das Jahr 2004 erfahren, dass der Steuerpflichtige (auch) im Jahr 1999 ein Depot unterhalten hatte, aber keine Erträge erklärte.
(3) Ein Datenzugriff kann nicht nur in Kombination mit der Steuerbescheinigung nach § 24c EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2003 vom 15. Dezember 2003 (BGBl I 2003, 2645, BStBl I 2003, 710) und den dort ―mit Wirkung nach dem 31. Dezember 2003 (§ 52 Abs. 39a Buchst. b EStG)― dokumentierten Tatsachen als wirksames Instrumentarium eingesetzt werden (a.A. Seipl/Wiese, DStR 2005, 98 ff.). Zwar muss das Kreditinstitut die Jahressteuerbescheinigung dem Hinterleger der Wertpapiere ausstellen. Die Finanzbehörden gelangen in den Besitz dieser Bescheinigung nur dann, wenn sie vom Steuerpflichtigen vorgelegt wird; tut er das nicht, bleibt dem Finanzamt nur der Weg über den Kontenabruf (vgl. zutreffend auch BFH-Urteil in DStR 2005, 1984, unter B. I. 4. c: Nichtvorlage als Ermittlungsanlass). Ist ihm diese Möglichkeit für den Veranlagungszeitraum 1999 aber nicht verschlossen, so kann es auf diese Weise die in einer Bescheinigung enthaltenen Daten selbst ermitteln. Die Finanzbehörden können über den Kontenabruf herausfinden, ob der Steuerpflichtige über Depots verfügt. Hat er z.B. bereits im Jahr 1999 ein Depot gehabt, aber keine Veräußerungsgewinne deklariert, können die Finanzbehörden ganz konkret die einzelnen Kontenbewegungen überprüfen (§ 93 AO 1977). Eine Verifikation ist ebenso denkbar, wenn der Steuerpflichtige in den Folgejahren Verluste geltend macht: Das FA kann dann einen Kontenabruf starten.
(4) So gilt: Die Vollzugsmöglichkeiten sind auch für das Streitjahr 1999 durch die Möglichkeit des Kontenabrufs effektiver ausgestaltet, so dass nicht mehr von einem normativen Vollzugsdefizit ausgegangen werden kann. Verfassungsrechtliche Zweifel bestehen gegen die Vorschriften über den Kontenabruf nicht. § 93 Abs. 7 AO 1977 räumt der Finanzbehörde das Ermessen ein, ob es vom Kontenabruf Gebrauch macht. Die Grenzen des Ermessens ergeben sich aus dem Gesetz selbst und aus dem im Zusammenwirken mit dem BVerfG im Verfahren der einstweiligen Anordnung geänderten AEAO (a.a.O.; BVerfG in NJW 2005, 1179, DB 2005, 754). Dies reicht aus (weitergehend mit rechtsvergleichenden Hinweisen Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 93 AO [Stand Juli 2005] Tz. 36 ff.; a.A. Göres, NJW 2005, 1902; Schmidt, Betriebsberater ―BB― 2005, 2155; zu den Rechtsschutzmöglichkeiten Cöster/Intemann, DStR 2005, 1249; vgl. dazu auch Stahl in KÖSDI 7/2005, a.a.O., m.w.N.).
(5) Gegen die rückbezügliche Anwendung des Kontenabrufs auf den Veranlagungszeitraum des Streitjahres spricht auch nicht die Erwägung des BVerfG-Urteils in BGBl I 2004, 591, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56, unter D. II., wonach die Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm die Geltung der verlängerten Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 für Fälle ausschließe, in denen allein Spekulationsgewinne unzulänglich deklariert worden seien. Diese Ausführungen macht das BVerfG bei der Prüfung der Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit (also: Nichtigkeit der Norm oder Unanwendbarkeit erst ab einem bestimmten Zeitpunkt). Der Gesetzgeber kann danach das Vollzugsdefizit nicht nachträglich reparieren, weil die Verfassungswidrigkeit bereits feststeht.
Für den hier streitigen Veranlagungszeitraum 1999 ist die rechtliche Ausgangssituation aber anders: Hier muss das Vollzugsdefizit bereits unter Berücksichtigung des Kontenabrufs geprüft werden. Weil ein normatives Vollzugsdefizit nicht (mehr) gegeben ist, bestehen keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift. Deshalb gilt die auf zehn Jahre verlängerte Festsetzungsfrist. Werden Gewinne aus privaten Veräußerungsgeschäften nicht erklärt ―und nur diese Fälle bilden die "Achillesferse" des Vollzugsdefizits―, so ist regelmäßig der Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt (vgl. BFH in BFH/NV 2004, 1516).
Auch das BVerfG hält in seinem Urteil in BGBl I 2004, 591, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56 (unter C. III. 3. d) "Nachbesserungen" der Bundes- und Landesfinanzverwaltungen beim Vollzug für möglich. Dies gilt aber erst Recht für gesetzliche Nachbesserungen wie sie mit dem automatisierten Kontenabruf vorgenommen wurden. Der erkennende Senat kann offen lassen, ob und inwieweit § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vor der Einführung dieses Verfahrens deshalb verfassungsrechtlich problematisch war, weil der Gesetzgeber bis zur Einführung der Auskunftsmöglichkeiten gemäß § 93 Abs. 7 i.V.m. § 93b AO 1977 mit der rechtlichen Gestaltung des Erhebungsverfahrens die Gleichheit im Belastungserfolg prinzipiell verfehlt hat. Denn es handelt sich ―allenfalls― um eine bloß temporäre Unvereinbarkeit, die die Norm solange unanwendbar macht, als die Vollzugsmängel bestehen (so zutreffend Birk, Steuer und Wirtschaft ―StuW― 2004, 277, 282).
c) Das unter b dargestellte Kontenabrufverfahren ist eingebettet in eine Vielzahl von Maßnahmen, die der Gesetzgeber seit dem Jahre 1999 unternommen hat, um die Vollziehbarkeit der Einkünfte aus Kapitalvermögen wirksamer zu gestalten (vgl. dazu das BFH-Urteil in DStR 2005, 1984) und die sich auch auf die Besteuerung von Veräußerungsgewinnen auswirken. So nutzt die Finanzverwaltung das Kontrollverfahren gemäß § 45d EStG in der durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (BGBl I 1999, 402) geänderten Fassung nicht nur dazu herauszufinden, ob und bei welchen Kreditinstituten der Steuerpflichtige Kapitalerträge hat freistellen lassen, sondern auch dazu, Einkünfte aus Wertpapierveräußerungsgeschäften zu ermitteln (so die Stellungnahme des BMF in diesem Verfahren).
d) Indes berechtigt erst das Kontenabrufverfahren das FA, gezielt auf Kontendaten (§ 24c KWG) zuzugreifen; denn es ist anders als das Kontrollverfahren nach § 45d EStG, das nur funktioniert, wenn der Steuerpflichtige einen Freistellungsauftrag erteilt, nicht vom Erklärungsverhalten des Steuerpflichtigen abhängig. Ein derartiges Verfahren ist zur Verifikation nicht nur ―wie dargelegt― geeignet, die verfassungsrechtlichen Anforderungen zu erfüllen. Es ist auch verfassungsrechtlich notwendig. Denn den Finanzbehörden ist wegen des nach wie vor geltenden § 30a Abs. 3 AO 1977 regelmäßig die Möglichkeit abgeschnitten, nicht oder falsch deklarierte Veräußerungsgewinne durch Kontrollmitteilungen zu verifizieren (siehe dazu BVerfG in BGBl I 2004, 591, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56, unter C. III. 3. a dd).
Diesem normativ effektiven Erhebungsverfahren stehen jedenfalls im gegenwärtigen Zeitpunkt die in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hervorgehobenen ―noch bestehenden― praktischen und technischen Probleme beim Umsetzen des Kontenabrufs nicht entgegen. Darf der Gesetzgeber zunächst abwarten, wie eine Neuregelung in der Rechtspraxis angewandt wird (vgl. BVerfG-Beschluss vom 9. März 1994 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, BVerfGE 90, 145, 191), so ist auch der Finanzverwaltung eine Anlaufphase zuzubilligen, in der sie die Voraussetzungen für ein rasches Funktionieren des Verfahrens schafft. Der Senat muss über die Länge dieses Zeitraums ebenso wenig entscheiden wie über die Frage, ob und ab wann von einem strukturellen Vollzugsdefizit trotz der gegebenen ―eine effektive Erhebung ermöglichenden― rechtlichen Struktur des Besteuerungsverfahrens auszugehen ist, wenn dieses Verfahren aus wirtschaftspolitischen oder aus anderen politischen Gründen nicht vollzogen wird oder die in der Anlaufphase erkennbaren Umsetzungsprobleme nicht gelöst werden (vgl. dazu auch Ratschow, DStR 2005, 2006, 2008). Zwar kann eine Norm in die Verfassungsmäßigkeit hineinwachsen, wenn eine bislang nicht auf ihre Durchsetzung gerichtete Erhebungsstruktur auf Effektivität hin umgestaltet wird (vgl. dazu Bryde, Die Effektivität von Recht als Rechtsproblem, 1993, 20); das gilt aber auch umgekehrt, wenn sich die "maßgebliche Relation zwischen Norm und Vollzugsrealität im Laufe der Zeit entscheidungserheblich ändert" (so BVerfG in BGBl I 2004, 591, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56, unter D. III. 2.). Indes bestehen im Streitfall keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei den in der mündlichen Verhandlung geschilderten wesentlich technisch bedingten Unzulänglichkeiten nicht um insoweit unschädliche Umsetzungsprobleme in der Anlaufphase handelt.
e) Nach diesen Maßstäben ist die Besteuerungsgrundlage des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG in der Fassung des Streitjahres verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es sind indes ―trotz der rechtlich möglichen rückbezüglichen Anwendung der neuen Vollzugsregeln― Fälle denkbar, in denen eine Kontenabfrage nicht zur Verifikation nicht erklärter Veräußerungsgewinne führt. So kann es sein, dass ein Steuerpflichtiger zwar im Streitjahr über ein bestimmtes Depot verfügte, dieses aber später geschlossen oder aber seine Bankverbindung geändert hat, so dass die Daten nicht gespeichert wurden (vgl. § 24c Abs. 1 Sätze 2 f. KWG). Abgesehen davon, dass diese Folge eher auf einer empirischen Ineffizienz der Rechtsnormen als auf einem normativen Defizit beruht, ist nach den Feststellungen des dem Verfahren beigetretenen BMF davon auszugehen, dass nur ein geringer Teil von Bankkunden sämtliche, bereits im Jahr 1999 bestehende Kontenverbindungen mit einer Bank in den letzten drei Jahren gekündigt hat. Deshalb ist ―wie das BMF in seiner Stellungnahme zutreffend hervorhebt― im Regelfall auch für das Streitjahr die Durchsetzung des Besteuerungsanspruchs bei den Einkünften aus privaten Veräußerungsgeschäften mit Wertpapieren gewährleistet.
Fundstellen
Haufe-Index 1466111 |
BFH/NV 2006, 423 |
BStBl II 2006, 178 |
BFHE 2006, 330 |
BFHE 211, 330 |
BB 2006, 190 |
DB 2006, 136 |
DStR 2006, 79 |
DStR 2006, 8 |
DStRE 2006, 184 |
DStZ 2006, 99 |
HFR 2006, 265 |