Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Hilfe zur Pflege. Einsetzen. Kenntnis des Sozialhilfeträgers vom Vorliegen der Voraussetzungen für die Leistung. Unvollständigkeit des Antrags bei Antragstellung. späterer Nachweis der Anspruchsvoraussetzungen
Leitsatz (amtlich)
Wird ein Antrag auf Sozialhilfeleistungen gestellt, wirkt die Kenntnis des Sozialhilfeträgers von der Bedarfslage bei späterem Nachweis der Anspruchsvoraussetzungen auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurück, auch wenn der Antrag unvollständig gewesen ist.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 24. Juli 2023 abgeändert und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23. September 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Dezember 2021 verurteilt, der Klägerin Hilfe zur Pflege in Höhe der ungedeckten Kosten der stationären Pflege der K1 auch für die Zeit vom 17. Oktober 2019 bis 31. Mai 2020 zu gewähren.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist noch die Gewährung von Leistungen der Hilfe zur Pflege für den Zeitraum vom 17. Oktober 2019 bis 31. Mai 2020 streitig.
Die Klägerin ist die Betreiberin der stationären Pflegeeinrichtung Seniorendomizil L1 in A1, in welcher die 1930 geborene Frau K1 (im Weiteren: O. K.) - die ursprüngliche Klägerin - vom 24. Januar 2019 bis zu ihrem Tod am 25. Februar 2022 gepflegt wurde.
Vor ihrer Aufnahme in der vorgenannten Einrichtung war die seit 1988 verwitwete O.K. in A2 wohnhaft. Ihr war seit Januar 2017 der Pflegegrad 3 und seit dem 1. November 2019 der Pflegegrad 4 zuerkannt (Bl. 23, 44 ff. Verw.-Akte). Hierfür erhielt sie von ihrer gesetzlichen Pflegeversicherung Leistungen für Pflege in vollstationären Einrichtungen von monatlich 1.262 Euro bzw. von 1.775 Euro ab November 2019 (Bl. 2, 23 Verw.-Akte). Die - jeweils mit 30,42 Tagen je Kalendermonat berechneten - Kosten der Unterbringung im L1 (Allgemeine Pflege, Ausbildungsumlage/-zuschlag, Unterkunft, Verpflegung, Investitionskosten Doppelzimmer, ohne Berücksichtigung einer Bekleidungspauschale und eines Barbetrages) beliefen sich auf 3.048,40 Euro für den Oktober 2019, ab November 2019 auf 3.561,28 Euro, ab Januar 2020 auf 3.585,61 Euro und ab März 2020 auf 3.585,62 Euro (Bl. 88/92 Verw.-Akte). Hinzu kamen anteilige Kosten einer Haftpflichtversicherung sowie nicht von der Pflegeversicherung der O.K. übernommene Anteile einer Inkontinenzpauschale. An Einkünften verfügte O. K. über eine Altersrente im streitgegenständlichen Zeitraum mit einem monatlichen Zahlbetrag von 728,02 Euro und eine Witwenrente mit einem monatlichen Zahlbetrag von 540,27 Euro (Bl. 54/58 Verw.-Akte). Über Vermögen in Höhe von mehr als 5.000 Euro verfügte sie im streitgegenständlichen Zeitraum nicht (Bl. 16, 59, 66, 68/71 Verw.-Akte).
Bereits am 24. Januar 2019 teilte die Klägerin dem Beklagten den Einzug der O.K. mit und führte hierzu aus, die Vermögensverhältnisse seien nicht bekannt, eventuell werde Sozialhilfe beantragt.
Am 17. Oktober 2019 sprach der damalige Betreuer der O. K., E1 (F. E.), bei dem Beklagten vor, um - so der diesbezügliche Kalendereintrag der Beklagten (Bl. 123 Senatsakte) - „für [O. K.] die Übernahme der ungedeckten Kosten für die vollstationäre Unterbringung im L1 zu beantragen. [O. K.] sei bereits seit ca. Februar 2019 im Heim. Nun hat sich herausgestellt, dass sich Schulden angesammelt haben, weil die Rente nicht zur Zahlung der Pflegekosten ausreicht.“ Hierzu legte F.E. seinen Betreuerausweis, einen OP-Auszug (Aufstellung der offenen Posten aus dem Konto der O. K. bei der Klägerin - Anm. d. Senats) für die Zeit vom 2. Juli bis 2. Oktober 2019 und die Rechnung der Klägerin für den Oktober 2019 vor. Die Sachbearbeiterin der Beklagten teilte F. E. darauf mit, dass für die vollstationäre Unterbringung die Kolleginnen in B1 zuständig seien, diese würden dann die Antragsunterlagen zuschicken. Dem F. E. sei erklärt worden, dass Leistungen erst ab dem Antragsmonat gewährt werden könnten.
Mit Schreiben vom 21. Oktober 2019 (Bl. 6/7 Verw.-Akte, ohne Absendevermerk o.ä.) übersandte der Beklagte dem F. E. darauf verschiedene Antragsunterlagen und bat um Nachweise zu den persönlichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen der O. K. Mit einem durch Fettdruck hervorgehobenen Hinweis teilte der Beklagte dabei mit, dass Leistungen der Hilfe zur Pflege erst ab dem Bekanntwerden der Notlage gewährt werden könnten „(d.h. frühestens ab dem 17.10.2019).“ Einen Hinweis auf Mitwirkungspflichten enthielt das Schreiben nicht.
Nachdem im Weiteren keine Rücksendung der Antragsunterlagen oder sonstige Kontaktaufnahme seitens des F. E. erfolgte, veranlasste der Beklagte bis auf eine Einwohnermeldeamtsabfrage im Juni 2020 keine weiteren Schritte.
Mit am 7. Dezember 2020 bei dem Beklagten eingegangenen Schreiben beantragte die nunmehrige Betreuerin der O. K., R1 (M. R.), Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) und reichte am 26. Fe...