Kenntnisgrundsatz im Sozialhilferecht

Sozialhilfe soll Menschen in Not einen einfachen Zugang zu lebensnotwendigen Leistungen bieten. Doch die unklare Definition des Kenntnisgrundsatzes im Sozialhilferecht sorgt für Unsicherheit. Ein Urteil des LSG Baden-Württemberg zeigt die Herausforderungen bei der Feststellung des Leistungsbeginns.

Die Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII) soll Menschen unterstützen, die ihren Lebensbedarf nicht selbst decken können und keinen ausreichenden Anspruch auf andere staatliche Leistungen haben. Die meisten Leistungen nach dem SGB XII sind nicht an einen Antrag gebunden. Es reicht aus, dass die zuständige Behörde erfährt, dass ein möglicher Leistungsberechtigter seinen Bedarf nicht selbst decken kann. Dies wird als Kenntnisgrundsatz bezeichnet. Was die Behörde genau wissen muss, ist im Gesetz nicht geregelt und in der Rechtsprechung umstritten. Ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht grundsätzlich erst ab dem Zeitpunkt der Kenntnis.

Fall des Landessozialgerichts Baden-Württemberg

Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat sich mit dieser Problematik in einer Entscheidung befasst. Eine pflegebedürftige ältere Dame kam in ein Pflegeheim in Albstadt-Ebingen, konnte aber die Heimkosten mit ihrer Rente nicht decken. Vermögen hatte sie nicht. Ihr Betreuer wandte sich am 17.10.2019 an das Sozialamt des zuständigen Landkreises, um die Übernahme der ungedeckten Kosten zu beantragen. Er legte Unterlagen vor, die die Rentenhöhe, die Heimkosten und aufgelaufene Rückstände zeigten, jedoch keine Angaben zum Vermögen. Der Beklagte bat den Betreuer am 21.10.2019 schriftlich um weitere Unterlagen und wies darauf hin, dass Leistungen der Hilfe zur Pflege erst ab dem Bekanntwerden der Notlage gewährt werden könnten, frühestens ab dem 17.10.2019. Eine Reaktion des Betreuers erfolgte nicht, und auch der Beklagte unternahm nichts Weiteres, auch nicht auf eine Nachfrage des Pflegeheims im Juni 2020. Erst nachdem eine neue Betreuerin am 7.12.2020 bei dem Beklagten nochmals Leistungen geltend machte, gewährte der Beklagte Hilfe zur Pflege. Für die vorangegangene Zeit lehnte der Beklagte Leistungen mit Bescheid vom 23.9.2020 ab. Die Leistungen könnten erst ab dem 7.12.2020 erbracht werden, da erst seitdem positive Kenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen bestehe. Insbesondere zum Vermögen hätten zuvor keine Nachweise vorgelegen.

Entscheidung des LSG Baden-Württemberg

Das Sozialgericht Reutlingen sah in erster Instanz bereits eine Leistungspflicht ab Juni 2020. Das LSG Baden-Württemberg verurteilte den Beklagten im Berufungsverfahren zur Übernahme der ungedeckten Heimkosten ab dem 17.10.2019. Der entscheidende Senat stellte fest, dass der Beklagte in dem Schreiben vom 21.10.2019 eine Kenntniserlangung für den 17.10.2019 bestätigt habe. Der Beklagte könne nicht mit der Behauptung überzeugen, er habe die Notlage nicht erahnen können. Die Kenntnis vom Bedarfsfall solle einen niederschwelligen Zugang zur Sozialhilfe gewährleisten. Das schließe die Möglichkeit einer Antragstellung nicht aus. In der Vorsprache des Betreuers am 17.10.2019 sei eine formlos mögliche Antragstellung zu sehen. Dies sei von dem Beklagten erkannt und entsprechend notiert worden. Werde ein formloser Antrag auf Sozialhilfeleistungen gestellt, der die Behörde noch nicht in die Lage versetze, die Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen, seien Leistungen dennoch ab Antragstellung zu zahlen. Leistungsberechtigte von antragsgebundenen Leistungen würden sonst bevorzugt. Es wäre widersinnig, wenn antragsgebundene Leistungen auch bei einem unvollständigen Antrag bereits ab Antragstellung gewährt würden, während die Sozialhilfe im Übrigen erst später einsetzen würde.

LSG Baden-Württemberg

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