Leitsatz (amtlich)
Wird die vom erstinstanzlichen Gericht für eine Betreuung festgesetzte Überprüfungsfrist im Laufe des Beschwerdeverfahrens überschritten, darf das Beschwerdegericht eine gegen die Betreuungsanordnung gerichtete Beschwerde nur dann zurückweisen, wenn es sich im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht die Überzeugung davon verschafft hat, dass die Maßnahme auch im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung noch erforderlich ist (im Anschluss an BGH, Beschl. v. 21.8.2019 - XII ZB 135/19 FamRZ 2019, 2027).
Normenkette
BGB § 1896 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Chemnitz (Beschluss vom 20.10.2020; Aktenzeichen 3 T 562/17) |
AG Marienberg (Beschluss vom 11.10.2017; Aktenzeichen 1 XVII 248/17) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 3. Zivilkammer des LG Chemnitz vom 20.10.2020 aufgehoben, soweit darin die Beschwerde der Betroffenen gegen den Beschluss des AG Marienberg vom 11.10.2017 zurückgewiesen worden ist.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das LG zurückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Wert: 5.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Die im Jahr 1950 geborene Betroffene wendet sich gegen die Anordnung ihrer Betreuung. Sie leidet seit dem Jahr 2006 an einer wahnhaften Störung. Unter anderem ist sie überzeugt, von einer fremden Person verfolgt und beobachtet zu werden, die sich unerlaubt Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft.
Rz. 2
Auf Anregung der Vermieterin der Betroffenen hat das AG mit Beschluss vom 11.10.2017 eine Betreuung für den Aufgabenkreis Vermögenssorge, Gesundheitssorge, Wohnungsangelegenheiten, Aufenthaltsbestimmung, Vertretung gegenüber Ämtern, Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern, Geltendmachung von Ansprüchen auf Leistungen aller Art, Entscheidung über die Unterbringung sowie Entscheidung über Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post eingerichtet und eine Berufsbetreuerin bestellt. Zur Überprüfung der Entscheidung hat es eine Frist bis zum 10.10.2020 gesetzt. Auf die Beschwerde der Betroffenen hat das LG die Entscheidung des AG durch Beschluss vom 20.10.2020 dahin abgeändert, dass der Aufgabenkreis der Betreuung nur noch die Gesundheitssorge, die Entscheidung über Unterbringung und unterbringungsähnliche Maßnahmen und die Vertretung vor Ämtern und Behörden umfasst.
Rz. 3
Gegen die Zurückweisung ihrer Beschwerde im Übrigen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen.
II.
Rz. 4
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das LG, soweit dieses die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen hat.
Rz. 5
1. Das LG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Betroffene leide unter einer wahnhaften Störung, infolge derer sie nicht in der Lage sei, die Krankheit zu erkennen und die Notwendigkeit der Betreuung einzusehen. Insoweit fehle es ihr am freien Willen. Wenn auch die Betroffene im Augenblick nicht die Hilfe eines Dritten benötige, weil sie in der Lage sei, die Angelegenheiten des täglichen Lebens zu bewältigen, so könne dennoch im Krisenfall nicht auf eine Betreuung verzichtet werden. Da die Betroffene keine Krankheitseinsicht habe und nicht bereit sei, Medikamente einzunehmen, sei jederzeit mit dem Ausbrechen des Wahns zu rechnen. Dann sei sie auf die Hilfe der Betreuerin angewiesen. Die Betreuung müsse auch die Vertretung vor Ämtern und Behörden umfassen, weil in der Vergangenheit Konflikte mit Behörden aufgetreten seien.
Rz. 6
2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Wie die Rechtsbeschwerde zutreffend rügt, hat das LG keine ausreichenden Feststellungen für die Anordnung einer Betreuung getroffen.
Rz. 7
a) Nach § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB darf ein Betreuer nur bestellt werden, soweit die Betreuung erforderlich ist. Dieser Grundsatz verlangt für die Bestellung eines Betreuers die konkrete tatrichterliche Feststellung, dass sie - auch unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit - notwendig ist, weil der Betroffene auf entsprechende Hilfen angewiesen ist und weniger einschneidende Maßnahmen nicht in Betracht kommen. Die Erforderlichkeit einer Betreuung darf sich dabei nicht allein aus der subjektiven Unfähigkeit des Betroffenen ergeben, seine Angelegenheiten selbst zu regeln (Betreuungsbedürftigkeit). Hinzutreten muss ein konkreter Bedarf für die Bestellung eines Betreuers. Ob und für welche Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht, ist aufgrund der konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen (st.Rspr., vgl. etwa BGH, Beschl. v. 10.6.2020 - XII ZB 25/20 FamRZ 2020, 1588 Rz. 9 m.w.N.). Dabei ist das Vorliegen eines aktuellen Handlungsbedarfs nicht zwingend erforderlich; es genügt, dass dieser Bedarf jederzeit auftreten kann und für diesen Fall die begründete Besorgnis besteht, dass ohne die Einrichtung einer Betreuung nicht das Notwendige veranlasst wird (BGH, Beschl. v. 25.4.2018 - XII ZB 528/17 FamRZ 2018, 1111 Rz. 12 m.w.N.).
Rz. 8
Soweit mit der Erstreckung der Betreuung auf den Aufgabenbereich der Vertretung in behördlichen und gerichtlichen Verfahren nicht lediglich eine an sich entbehrliche, aber nicht schädliche Klarstellung der sich aus § 1902 Abs. 1 BGB ergebenden Vertretungsberechtigung des Betreuers im Rahmen eines weiteren ihm übertragenen Aufgabenbereichs beabsichtigt ist, muss regelmäßig ein konkreter Bezug zu einer bestimmten Angelegenheit oder einem bestimmten Verfahren hergestellt werden, aus dem sich die Notwendigkeit der Bestellung eines Betreuers ergibt. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Betroffene krankheitsbedingt dazu neigt, sich durch das Betreiben einer Vielzahl von sinnlosen Verfahren zu schädigen (BGH, Beschl. v. 18.11.2015 - XII ZB 16/15 FamRZ 2016, 291 Rz. 17 m.w.N.).
Rz. 9
Wird die vom erstinstanzlichen Gericht festgesetzte Überprüfungsfrist - wie hier - im Laufe des Beschwerdeverfahrens überschritten, darf das Beschwerdegericht eine gegen die Betreuungsanordnung gerichtete Beschwerde nur dann zurückweisen, wenn es sich im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht die Überzeugung davon verschafft hat, dass die Maßnahme auch im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung noch erforderlich ist (BGH, Beschl. v. 21.8.2019 - XII ZB 135/19 FamRZ 2019, 2027 Rz. 9).
Rz. 10
b) Gemessen an diesen Grundsätzen kann die angefochtene Entscheidung keinen Bestand haben. Im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung des LG war die vom AG festgesetzte Überprüfungsfrist bereits abgelaufen. Dafür, dass der vom LG gleichwohl angenommene Betreuungsbedarf noch gegeben war, fehlt es jedoch an ausreichenden Feststellungen i.S.d. § 26 FamFG.
Rz. 11
aa) Das gilt zum einen für den Bereich der Gesundheitssorge.
Rz. 12
Zwar kam der Sachverständige O. in seinem vom AG eingeholten und vom LG zitierten Gutachten vom 22.6.2017 zu der Einschätzung, die Betroffene könne ihre Angelegenheiten im Bereich der Gesundheitssorge nicht selbst erledigen. Sie zeige keine Krankheitseinsicht und lehne die dringend notwendige medikamentöse sowie stationär-psychiatrische Behandlung ab. Allerdings hatte der Sachverständige die Betreuung zunächst für drei Jahre empfohlen und darauf hingewiesen, dass im weiteren Verlauf nochmals geprüft werden solle, ob eine Fortsetzung der Betreuung notwendig sei. Das LG führt zudem selbst aus, die Betroffene bedürfe im Augenblick nicht der Hilfe eines Dritten, weil sie in der Lage sei, die Angelegenheiten des täglichen Lebens zu bewältigen; nur im Krisenfall sei eine Betreuung notwendig.
Rz. 13
Dass die Betroffene in ihrer Lebenssituation zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung für bestimmte Angelegenheiten - insb. solche der Gesundheitssorge - einen konkreten Bedarf für die Hilfe eines Betreuers hatte, ergibt sich daraus nicht. Entsprechendes folgt auch nicht aus dem im Beschwerdeverfahren erstatteten Gutachten der Sachverständigen S. vom 30.4.2018, der Ergänzung hierzu vom 12.12.2018 oder ihrer kurzen mündlichen Stellungnahme am 7.10.2020. Die Sachverständige hat zwar einen Einfluss des Wahnsystems auf Entscheidungen und Handlungen der Betroffenen bejaht und die Fortführung der Betreuung befürwortet, jedoch entgegen § 280 Abs. 3 Nr. 4 FamFG nicht zum Umfang des Aufgabenkreises Stellung genommen. Für einen konkreten Betreuungsbedarf lassen sich daraus keine tragfähigen Schlüsse ziehen.
Rz. 14
bb) Auch im Übrigen fehlt es für den vom LG bestimmten Aufgabenkreis an hinreichenden Feststellungen. Die Anordnung des Aufgabenbereichs der freiheitsentziehenden Unterbringung und freiheitsentziehenden Maßnahmen i.S.d. § 1906 BGB beruht auf keiner Empfehlung der beiden Sachverständigen und wird von der angefochtenen Entscheidung auch nicht gesondert begründet. Ebenso fehlt es für den Aufgabenbereich der Vertretung vor Ämtern und Behörden an einer hinreichenden Begründung. Weder stellt die Entscheidung einen Bezug zu einer behördlichen Angelegenheit her, für die die Vertretung durch einen Betreuer notwendig ist, noch stellt sie fest, dass sich die Betroffene durch eine Vielzahl sinnloser Verfahren selbst zu schädigen droht. Die hierfür allein gegebene Begründung des LG, es seien "in der Vergangenheit Konflikte mit Behörden aufgetreten", ist für einen entsprechenden Betreuungsbedarf ohne Aussagekraft.
Rz. 15
3. Die Entscheidung des LG ist daher gem. § 74 Abs. 5 FamFG im Umfang der Anfechtung aufzuheben, und die Sache ist insoweit nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das LG zurückzuverweisen, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist. Dieses wird unter Anlegung der zutreffenden rechtlichen Maßstäbe erneut über die Erforderlichkeit einer Betreuung zu befinden haben.
Rz. 16
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Fundstellen