Leitsatz (amtlich)
Für die Widerlegung der Richtigkeit des in einem anwaltlichen Empfangsbekenntnis angegebenen Zustellungsdatums genügt das Verstreichen eines ungewöhnlich langen Zeitraums zwischen der gerichtlichen Verfügung und diesem Datum nicht.
Normenkette
ZPO § 174 Abs. 4 S. 1
Verfahrensgang
LG Rottweil (Beschluss vom 09.03.2020; Aktenzeichen 1 S 130/19) |
AG Rottweil (Urteil vom 05.11.2019; Aktenzeichen 2 C 244/19) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der 1. Zivilkammer des LG Rottweil vom 9.3.2020 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 3.513,28 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Rz. 1
Das LG hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des AG Rottweil vom 5.11.2019 mit Beschluss vom 9.3.2020 als unzulässig verworfen. Die vorab per Fax übermittelte Berufungsbegründung des Klägers sei erst nach Ablauf der bis zum 11.2.2020 verlängerten Frist beim LG eingegangen. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit seiner Rechtsbeschwerde.
Rz. 2
Vor Erlass des angefochtenen Beschlusses hat das Berufungsgericht dem Kläger mit Verfügung vom 18.2.2020 Gelegenheit zur Stellungnahme zu der beabsichtigten Verwerfung mit Fristsetzung bis zum 6.3.2020 geben wollen. Ausweislich des Empfangsbekenntnisses des Klägers ist ihm die Verfügung des Gerichts jedoch erst am 10.3.2020 zugegangen.
Rz. 3
Der Kläger hat unter Bezugnahme auf einen Aktenvermerk des zuständigen Justizbeamten u.a. geltend gemacht, dass zum Zeitpunkt der Übermittlung der Berufungsbegründung die Uhr des Faxgeräts des Berufungsgerichts fehlerhaft noch auf Sommerzeit eingestellt gewesen sei. Unter Zugrundelegung der richtigen Winterzeit sei seine Berufungsbegründung noch am 11.2.2020 vor 24.00 Uhr und somit fristgemäß eingegangen.
II.
Rz. 4
1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. §§ 522 Abs. 1 Satz 4, 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO).
Rz. 5
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat den Kläger vor seiner Entscheidung nicht auf den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung sowie seine Absicht, die Berufung zu verwerfen, hingewiesen und damit das Verfahrensrecht des Antragstellers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.
Rz. 6
a) Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist vor der Verwerfung einer Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist dem Berufungskläger rechtliches Gehör zu gewähren (BGH, Beschl. v. 29.6.1993 - X ZB 21/92, NJW 1994, 392; v. 18.7.2007 - XII ZB 162/06 NJW-RR 2008, 78 Rz. 6; v. 24.2.2010 - XII ZB 168/08 NJW-RR 2010, 1075 Rz. 7; v. 4.12.2012 - VIII ZB 25/12, NJW-RR 2013, 255 Rz. 5; v. 6.12.2017 - XII ZB 107/17 MDR 2018, 296 Rz. 6; vgl. auch , ZPO, 18. Aufl., § 522 Rz. 4; MünchKomm-ZPO/, 6. Aufl., § 522 Rz. 4; , ZPO, 33. Aufl., § 522 Rz. 6, 13). Diese Pflicht wird - da eine ausdrückliche Normierung wie beispielsweise in § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO fehlt - unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG hergeleitet. Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern (vgl. BGH, Beschl. v. 29.6.1993, a.a.O.; vom 18.7.2007, a.a.O.; vom 6.12.2017, a.a.O., Rz. 7).
Rz. 7
b) Der von dem Berufungsgericht erteilte Hinweis ist dem Kläger vor der Entscheidung nicht zugegangen.
Rz. 8
aa) In der Verfahrensakte befindet sich eine Verfügung des Kammervorsitzenden vom 18.2.2020, mit der die Parteien auf die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist und die Absicht des Gerichts, die Berufung deshalb als unzulässig zu verwerfen, unter Fristsetzung hingewiesen werden sollten. Diese Verfügung ist ausweislich der Verfahrensakte auch noch an diesem Tag von der Geschäftsstelle ausgefertigt und die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis veranlasst worden. Der Kläger hat jedoch mit dem von ihm unterschriebenen, erst am 13.3.2020 wieder bei Gericht eingegangenen, Empfangsbekenntnis einen Zugang am 10.3.2020 und damit zeitlich nach Erlass der angefochtenen Entscheidung am 9.3.2020 bestätigt. Das Berufungsgericht hat es somit versäumt, sich vor Erlass des Verwerfungsbeschlusses von dem rechtzeitigen Zugang der Hinweisverfügung beim Kläger zu überzeugen (vgl. zu dieser Verpflichtung BVerfG NJW 2019, 1433 Rz. 17).
Rz. 9
bb) An diesem Umstand ändert es entgegen der Rechtsbeschwerdeerwiderung nichts, dass zwischen der Verfügung des Vorsitzenden und der Zustellung dieser Verfügung an den Kläger ein ungewöhnlich langer Zeitraum vergangen und zudem die gleichzeitig veranlasste Zustellung an die Beklagte bereits am 20.2.2020 bewirkt worden ist.
Rz. 10
Das Empfangsbekenntnis beweist gem. § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO und der darin enthaltenen gesetzlichen Beweisregel (§ 286 Abs. 2 ZPO) das in ihm angegebene Zustellungsdatum (BGH, Urt. v. 7.6.1990 - III ZR 216/89 NJW 1990, 2125; v. 26.4.2001 - NJW 2001, 2722, 2723; Beschl. v. 19.4.2012 - IX ZB 303/11, ZInsO 2012, 1088 Rz. 6). Dadurch ist der Beweis, dass das zuzustellende Schriftstück den Adressaten tatsächlich zu einem früheren Zeitpunkt erreicht hat, allerdings nicht ausgeschlossen. Nicht ausreichend ist aber eine bloße Erschütterung der Richtigkeit der Angaben im Empfangsbekenntnis. Vielmehr muss die Beweiswirkung vollständig entkräftet, mit anderen Worten jede Möglichkeit der Richtigkeit der Empfangsbestätigung ausgeschlossen werden (BGH, Urt. v. 7.6.1990, a.a.O.; vom 26.4.2001, a.a.O.; Beschluss vom 19.4.2012, a.a.O.; vgl. auch BVerfG, NJW 2001, 1563).
Rz. 11
Für Letzteres genügt ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen Verfügung und Zustellung noch nicht. Das gilt hier umso mehr, als der Kläger darauf verwiesen hat, dass es immer wieder vorkomme, dass für sein Postfach vorgesehene Schriftstücke in die Fächer anderer Rechtsanwälte eingelegt würden und umgekehrt. Dafür hat er auch Belege zu den Akten gereicht.
Rz. 12
c) Der angefochtene Beschluss beruht auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs. Hätte der Kläger vor der Entscheidung des Berufungsgerichts Gelegenheit zur Äußerung zu dem vermeintlich verspäteten Eingang seiner Berufungsbegründung gehabt, hätte er insb. auf die falsche Einstellung der Uhr des gerichtlichen Faxgerätes und den dazu gefertigten Aktenvermerk des zuständigen Beamten vom 12.3.2020 verweisen können. Das Berufungsgericht hätte dann Gelegenheit gehabt, diesem Vorbringen nachzugehen und dessen Wahrheitsgehalt zu prüfen. Es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass es sich in diesem Fall von dem rechtzeitigen Eingang der Berufungsbegründung überzeugt hätte.
Fundstellen
Haufe-Index 14901047 |
BB 2021, 2689 |