Tenor
Als zuständiges Gericht wird das Amtsgericht Stuttgart bestimmt.
Tatbestand
I. Auf Antrag der Klägerin hat das Amtsgericht Euskirchen gegen die Beklagte einen Mahnbescheid wegen angeblicher Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall erlassen. Nach Widerspruchserhebung durch die Beklagte ist der Rechtsstreit am 22. Mai 2002 an das Amtsgericht Stuttgart abgegeben worden. Die Klägerin hat im Mahnantrag dieses Gericht, in dessen Bezirk die Beklagte ihren Sitz hat, als für ein streitiges Verfahren zuständig bezeichnet.
Das Amtsgericht Stuttgart hat am 29. Mai 2002 ein Schreiben an die Klägerin mit folgendem Zusatz verfügt: „Sofern sich der Unfall nicht im Bereich der Zuständigkeit des Amtsgerichts Stuttgart ereignet hat und Verweisung an das für den Unfallort zuständige Amtsgericht beantragt wird, möge erklärt werden, ob die Verweisung im schriftlichen Verfahren erfolgen kann”. Daraufhin hat die Klägerin die Abgabe des Verfahrens an das Amtsgericht Brühl beantragt. Auf Befragen hat die Beklagte erklärt, sie sei mit einer Verweisung an das Amtsgericht Brühl einverstanden. Daraufhin hat sich das Amtsgericht Stuttgart mit Beschluß vom 11. Juli 2002 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht Brühl verwiesen. Dieses hat den Rechtsstreit mit Beschluß vom 29. Juli 2002 an das Amtsgericht Stuttgart zurückverwiesen.
Das Oberlandesgericht Stuttgart, dem das Amtsgericht Stuttgart die Sache gemäß § 36 Abs. 2 ZPO zur Entscheidung vorgelegt hat, hält den Verweisungsbeschluß des Amtsgerichts Stuttgart für bindend und somit die Zuständigkeit des Amtsgerichts Brühl für gegeben. Dem stehe die Angabe im Mahnbescheid, das streitige Verfahren solle vor dem Amtsgericht Stuttgart durchgeführt werden, nicht entgegen. Zwar sei gemäß § 696 Abs. 1 Satz 1, § 700 Abs. 3 Satz 1 ZPO eine Korrektur der im Mahnantrag getroffenen Zuständigkeitswahl nur durch übereinstimmendes, bereits vor der Abgabe an das Empfangsgericht erklärtes Verlangen der Parteien möglich. Der Verweisungsbeschluß entbehre jedoch auch im vorliegenden Fall, in dem die übereinstimmenden Erklärungen erst nach der Abgabe erfolgten, nicht jeder rechtlichen Grundlage und sei daher nicht willkürlich.
Weil sich das Oberlandesgericht hierbei in Widerspruch zu einer Rechtsauffassung sieht, die in Entscheidungen des Oberlandesgerichts Schleswig (MDR 2001, 50) und des Bayerischen Obersten Landesgerichts (MDR 1994, 94) vertreten wird, legt es die Sache gemäß § 36 Abs. 3 ZPO zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vor.
Entscheidungsgründe
II. Auf Grund der zulässigen Divergenzvorlage ist das Amtsgericht Stuttgart als zuständiges Gericht zu bestimmen.
1. Die in § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO genannten Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung liegen vor. Das Amtsgericht Stuttgart, in dessen Bezirk die Beklage ihren Sitz hat und das deshalb – wegen Fehlens eines abweichenden ausschließlichen Gerichtsstands – gemäß §§ 12, 17 ZPO für den Rechtsstreit örtlich zuständig ist, hat sich durch einen gemäß § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO unanfechtbaren Beschluß für unzuständig erklärt. Das Amtsgericht Brühl hat den Rechtsstreit an das Amtsgericht Stuttgart zurückverwiesen. Das genügt, um zur Anwendung des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu gelangen (BGHZ 102, 338, 339 f.).
2. Das Amtsgericht Stuttgart ist für den vorliegenden Rechtsstreit zuständig.
a) Die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Stuttgart wird durch die nach § 32 ZPO bestehende konkurrierende örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Brühl nicht berührt. Der Klägerin stand insoweit ein Wahlrecht im Sinne des § 35 ZPO zu. Davon hat sie dadurch Gebrauch gemacht, daß sie in dem Mahnantrag das örtlich zuständige Amtsgericht Stuttgart gemäß § 690 Abs. 1 Nr. 5 ZPO als das für ein streitiges Verfahren zuständige Gericht bestimmt hat. Seit der Neufassung dieser Vorschrift durch das am 1. Januar 1992 in Kraft getretene Rechtspflegevereinfachungsgesetz vom 17. Dezember 1990 (BGBl. I, 2847) muß nicht mehr zwingend der allgemeine Gerichtsstand des Antragsgegners als zuständiges Gericht angeben werden. Daher gibt es heute keinen Grund mehr für die zum früheren Recht vertretene Auffassung, wonach diese Angabe keine Wahl zwischen mehreren Gerichtsständen bedeute und das Wahlrecht daher noch im Verlauf des weiteren Verfahrens ausgeübt werden könne.
Die Parteien hätten zwar übereinstimmend verlangen können, daß das Verfahren vom Mahngericht, dem Amtsgericht Euskirchen, nicht an das Amtsgericht Stuttgart, sondern an ein anderes Gericht abgegeben werde (§ 696 Abs. 1 Satz 1, letzter Halbsatz ZPO). Ein solcher übereinstimmender Antrag ist jedoch beim Mahngericht bis zur Abgabe an das Amtsgericht Stuttgart nicht eingegangen. Nach deren Vollzug ist die von der Klägerin getroffene Wahl unwiderruflich und verbindlich (Sen.Beschl. v. 19.01.1993 – X ARZ 845/92, NJW 1993, 1273).
b) Das Amtsgericht Stuttgart konnte den Rechtsstreit demgemäß nicht an das Amtsgericht Brühl verweisen. Eine Verweisung kommt nur dann in Betracht, wenn bei dem Gericht, bei dem die Sache rechtshängig ist, ein Gerichtsstand nicht eröffnet ist. Dies gilt auch, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Rechtshängigkeit erst durch Abgabe gemäß § 696 Abs. 1 Satz 1 ZPO begründet wurde. Zwar wird das Gericht, an das der Rechtsstreit abgegeben wird, durch diese Abgabe nicht in gleicher Weise wie durch eine Verweisung wegen fehlender Zuständigkeit nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO gebunden (vgl. § 696 Abs. 5 ZPO); es hat vielmehr seine Zuständigkeit nach den allgemeinen Vorschriften zu prüfen. Eine Verweisung ist ihm danach jedoch nur im Fall seiner Unzuständigkeit eröffnet; ist es – wie hier – zumindest auch für die Entscheidung zuständig, scheidet eine Verweisung aus.
c) Dem Verweisungsbeschluß des Amtsgerichts Stuttgart kommt auch keine Bindungswirkung zu.
Zwar sind im Interesse der Prozeßökonomie und zur Vermeidung von Zuständigkeitsstreitigkeiten und dadurch bewirkten Verzögerungen und Verteuerungen des Verfahrens Verweisungsbeschlüsse gemäß § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO unanfechtbar. Dies entzieht auch einen sachlich zu Unrecht ergangenen Verweisungsbeschluß und die diesem Beschluß zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung (BGHZ 102, 338, 340; BGH, Beschl. v. 08.04.1992 – XII ARZ 8/92, NJW-RR 1992, 902 f.; Sen.Beschl. v. 22.06.1993 – X ARZ 340/93, NJW 1993, 2810).
Nach ständiger Rechtsprechung kommt einem Verweisungsbeschluß jedoch dann keine Bindungswirkung zu, wenn er schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann (RGZ 119, 379, 384; BGHZ 2, 278, 280), etwa weil er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht oder weil er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muß (BGHZ 71, 69, 72 ff.; BGH, Beschl. v. 04.12.1991 – XII ARZ 29/91, NJW-RR 1992, 383; Sen.Beschl. v. 09.07.2002 – X ARZ 110/02, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Im vorliegenden Fall hat das Amtsgericht den Parteien zwar rechtliches Gehör gewährt. Dem Beschluß haftet jedoch ein schwerwiegender Rechtsfehler an, der ihn als willkürlich erscheinen läßt. Zwar läßt der Beschluß jegliche Begründung vermissen; der rechtliche Ausgangspunkt des Amtsgerichts ist aber aus dem Akteninhalt, insbesondere aus der Verfügung vom 29. Mai 2002, deutlich zu erkennen. Das Gericht ist offensichtlich davon ausgegangen, trotz seiner eigenen örtlichen Zuständigkeit könne die Klägerin auch noch nach Abgabe der Sache durch das Mahngericht ein anderes zuständiges Gericht wählen, weshalb auf entsprechenden Antrag die Verweisung an dieses Gericht auszusprechen sei. Sonst hätte das Amtsgericht nicht der Klägerin von sich aus anheimgestellt, einen Verweisungsantrag zu stellen.
Dem dahinter stehenden Rechtsstandpunkt ist jedenfalls durch die Neufassung des § 696 Abs. 1 Nr. 5 ZPO die Grundlage entzogen worden. Diese mit der Rechtsänderung verbundene Folge hat das Gericht entweder nicht zur Kenntnis genommen oder es war nicht gewillt, sich an die Änderung der gesetzlichen Voraussetzungen einer Verweisung im Mahnverfahren zu halten. Jedenfalls lassen sich aus der Akte keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, daß sich das Amtsgericht mit der geltenden Rechtslage auseinandergesetzt und nach Gründen für die Zulässigkeit einer Verweisung gesucht haben könnte.
Unter diesen Umständen kann der Verweisungsbeschluß nicht hingenommen werden. Wie der Senat bereits entschieden hat, ist eine Verweisung willkürlich, wenn ein Gericht eine bereits vor längerer Zeit vorgenommene Gesetzesänderung, mit der gerade solche Verweisungen unterbunden werden sollen, offenbar nicht zur Kenntnis genommen hat (Sen.Beschl. v. 19.01.1993 – X ARZ 845/92, NJW 1993, 1273). Dies gilt in besonderem Maße, wenn die betreffende Gesetzesänderung – wie im vorliegenden Fall – bereits mehr als zehn Jahre zurückliegt und ihre Konsequenzen für die Verweisung des Rechtsstreits nach § 281 ZPO in der Rechtsprechung und Kommentarliteratur ausführlich erörtert worden sind. Nicht minder schwerwiegend wäre der Gesetzesverstoß, wenn das Gericht das geänderte Gesetz zwar gekannt, sich jedoch ohne weiteres darüber hinweggesetzt haben sollte. Aus diesem Grund kann der Verweisungsbeschluß schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden.
Auch der Umstand, daß die Klägerin einen Verweisungsantrag gestellt hat und die Beklagte mit der Verweisung einverstanden gewesen ist, führt zu keinem anderen Ergebnis. Wenn das Gericht durch die Verweisung des Rechtsstreits einem übereinstimmenden Verlangen beider Parteien entspricht, kann dies zwar nach teilweise vertretener Auffassung in manchen Fällen geeignet sein, einen rechtsfehlerhaft zustande gekommenen Verweisungsbeschluß nicht willkürlich erscheinen zu lassen (BGH, Beschl. v. 23.03.1988 – IVb ARZ 8/88, FamRZ 1988, 943; OLG Koblenz, OLG-Report 1997, 74 f.; Zöller/Vollkommer, ZPO, 23. Aufl., § 696 Rdn. 9a). Dies kann aber jedenfalls dann nicht gelten, wenn ein unzweifelhaft zuständiges Gericht die Parteien, die sich bislang zur Frage einer Verweisung noch nicht geäußert haben, von sich aus auf die angeblich bestehende Möglichkeit einer Verweisung hinweist. Wenn die Parteien daraufhin die Verweisung beantragen bzw. sich mit ihr einverstanden erklären, liegt die Annahme nicht fern, daß sie durch die rechtlich unzutreffende Information dazu veranlaßt worden sind. Schon aus diesem Grund sind die Erklärungen der Parteien nicht geeignet, der rechtswidrigen Verweisung den Willkürcharakter zu nehmen.
Unterschriften
Melullis, Jestaedt, Scharen, Keukenschrijver, Asendorf
Fundstellen
BGHR 2003, 42 |
NJOZ 2002, 2754 |