Leitsatz (amtlich)

Zum Wert des Beschwerdegegenstands im Fall eines Nachbesserungsverlangens.

 

Normenkette

ZPO § 511 Abs. 2 Nr. 1

 

Verfahrensgang

LG Aachen (Entscheidung vom 07.03.2022; Aktenzeichen 3 S 42/21)

AG Aachen (Entscheidung vom 29.07.2021; Aktenzeichen 107 C 168/21)

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerde des Klägers gegen den Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Aachen vom 7. März 2022 wird als unzulässig verworfen.

Der Kläger hat die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf bis 1.000 € festgesetzt.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Kläger nimmt die Beklagte, von welcher er ein Fahrzeug erworben hat, im Wege der Nachbesserung auf den Ausbau des seiner Ansicht nach mangelhaften und den Einbau eines neuen, serienmäßigen Nachschalldämpfers der Auspuffanlage in Anspruch.

Rz. 2

Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete, vom Amtsgericht nicht zugelassene Berufung hat das Landgericht - nach einem entsprechenden Hinweis - gemäß § 522 Abs. 1 ZPO mangels Erreichens der Berufungssumme als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat das Berufungsgericht - soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren von Interesse - im Wesentlichen ausgeführt:

Rz. 3

Dem Kläger sei es nicht gelungen, den erforderlichen Wert des Beschwerdegegenstands von mehr als 600 € glaubhaft zu machen (§ 511 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 ZPO). Die Berufungskammer bestimme den Wert der streitgegenständlichen Reparaturmaßnahme an dem vom Kläger erworbenen Fahrzeug auf jedenfalls nicht mehr als 567,78 €. Denn in dem dem Rechtsstreit vorangegangenen selbständigen Beweisverfahren sei der Wert der Mangelbeseitigungskosten sachverständig mit einem Betrag von 506,37 € brutto beziehungsweise - durch einen anderen Sachverständigen - mit 438,34 € brutto ermittelt worden. Zur Durchführung der Reparatur seien nach Ansicht der beiden Sachverständigen nur das Lösen und Befestigen der Klemmhülse, der Aus- und Einbau des Nachschalldämpfers sowie an Materialkosten die Kosten für diesen Nachschalldämpfer und für eine Schelle erforderlich. Diese Feststellungen habe der Kläger durch insgesamt drei weitere von ihm im Berufungsverfahren vorgelegte Reparaturkostenkalkulationen nicht zu entkräften vermocht, weshalb er die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer 600 € übersteigenden Beschwer nicht glaubhaft gemacht habe.

Rz. 4

Dies gelte zunächst für das von dem Kläger über das Internet und ohne Bezug zu dem vorliegenden Verfahren eingeholte Angebot der Beklagten zur Durchführung der verfahrensgegenständlichen Reparatur. Denn ausweislich dieses Angebots vom 7. Dezember 2021 fielen (lediglich) Kosten in Höhe von 541,64 € an. Eine über 600 € hinausgehende Beschwer ergebe sich nicht deshalb, weil das Angebot im Rahmen einer Rabattaktion (20 %) eingeholt worden sei. Denn wenn der Kläger gegenwärtig die Reparatur zu dem seitens der Beklagten angebotenen Preis (541,64 €) durchführen lassen könne, sei für eine gegenwärtige Beschwer kein hypothetischer Preis bei Außerachtlassung von Rabatten zugrunde zu legen.

Rz. 5

Eine höhere Beschwer habe der Kläger auch nicht durch die Vorlage der weiteren Reparaturkostenkalkulationen vom 1. August 2021 und vom 28. Dezember 2021 glaubhaft zu machen vermocht. Denn soweit diese mit 666,32 € beziehungsweise 696,21 € über 600 € liegende Reparaturkosten auswiesen, beruhe dies darauf, dass den im selbständigen Beweisverfahren sachverständig festgestellten Arbeitsschritten und notwendigen Ersatzteilen weitere hinzugefügt worden seien. Weshalb zusätzlich etwa der beidseitige Ein- und Ausbau von Blenden erforderlich sein solle, lege der Kläger ebenso wenig dar wie einen Grund, weshalb über den Ein- und Ausbau des Nachschalldämpfers hinaus auch dessen "Ersetzen" zusätzlichen Arbeitsaufwand verursachen solle. Auch sei nicht dargelegt, weshalb ausweislich der jüngsten Reparaturkostenkalkulation vom 28. Dezember 2021 über die bereits sachverständig mit einer Pauschale berücksichtigten Kleinteile hinaus noch ein Haltering sowie Halter und Schrauben zur Durchführung der Reparatur erforderlich und gesondert in Rechnung zu stellen seien.

Rz. 6

Lege man ausschließlich die seitens der Sachverständigen im selbständigen Beweisverfahren jeweils für erforderlich gehaltenen Posten für Arbeitslohn und Ersatzteile zugrunde, ergebe sich aus allen fünf aktenkundigen Reparaturkostenkalkulationen eine unter 600 € liegende Beschwer.

Rz. 7

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde.

II.

Rz. 8

Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte und auch den Form- und Fristerfordernissen genügende Rechtsbeschwerde ist unzulässig. Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss gewahrt sein müssen (siehe nur Senatsbeschlüsse vom 21. März 2023 - VIII ZB 80/22, juris Rn. 13; vom 21. Februar 2023 - VIII ZB 17/22, juris Rn. 14; jeweils mwN), sind nicht erfüllt. Die Rechtssache wirft weder entscheidungserhebliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf noch erfordert sie eine Entscheidung des Senats zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.

Rz. 9

1. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde verletzt die angefochtene Entscheidung, wonach die Berufung des Klägers im Hinblick auf die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO unzulässig ist, nicht die - sich einander ergänzenden - Verfahrensgrundrechte des Klägers auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).

Rz. 10

a) Hiernach ist den Parteien (bereits) durch die Ausgestaltung des Verfahrensrechts ein Ausmaß an rechtlichem Gehör zu eröffnen, welches dem Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht wird und das den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Zudem dürfen die zivilprozessualen Vorschriften, die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind, nicht derart ausgelegt und angewandt werden, dass den Parteien der Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (st. Rspr.; siehe nur Senatsbeschluss vom 23. Mai 2023 - VIII ZB 16/22, NJW-RR 2023, 1101 Rn. 8 mwN).

Rz. 11

Eine solche unzumutbare Erschwerung des Zugangs zu der an sich gegebenen Berufung kann auch in einem Fehler bei der Bemessung der Beschwer (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) liegen (vgl. Senatsbeschluss vom 5. Oktober 2021 - VIII ZB 83/20, NZM 2022, 269 Rn. 21 mwN). Die Bemessung der Berufungsbeschwer steht jedoch gemäß §§ 2, 3 ZPO im freien Ermessen des Berufungsgerichts, das dabei nicht an den in erster Instanz festgesetzten Streitwert gebunden ist. Der vom Berufungsgericht angenommene Wert kann vom Rechtsbeschwerdegericht nur beschränkt darauf überprüft werden, ob das Berufungsgericht, etwa weil es bei der Ausübung seines Ermessens die in Betracht zu ziehenden Umstände nicht umfassend berücksichtigt hat, die Grenze des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (st. Rspr.; vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 23. Mai 2023 - VIII ZB 16/22, aaO Rn. 10; vom 5. Oktober 2021 - VIII ZB 83/20, aaO; jeweils mwN).

Rz. 12

b) Ein solcher Ermessensfehlgebrauch liegt hier nicht vor.

Rz. 13

aa) Nach § 511 Abs. 3, 2 Nr. 1 ZPO hat der Berufungskläger - hier der Kläger - den Wert des Beschwerdegegenstands glaubhaft zu machen. Das Berufungsgericht darf die Berufung allerdings nicht allein deshalb als unzulässig verwerfen, weil dieser Wert nicht glaubhaft gemacht worden ist. Vielmehr hat es ihn bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung auf Grund eigener Lebenserfahrung und Sachkenntnis nach freiem Ermessen zu schätzen. Dabei ist - wie bei jeder Wertbestimmung nach pflichtgemäßem Ermessen - das Gebot der Abwägung aller Umstände des Einzelfalls zu beachten (vgl. Senatsbeschluss vom 5. Oktober 2021 - VIII ZB 83/20, aaO Rn. 23 mwN).

Rz. 14

bb) Das Berufungsgericht hat entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde bei seiner Schätzung der Beschwer gemäß §§ 2, 3 ZPO der Sache nach nicht verkannt, dass nach § 4 Abs. 1 ZPO der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung, ob der Wert des vom Berufungskläger geltend gemachten Beschwerdegegenstands die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO übersteigt, (grundsätzlich) der Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom 10. Januar 2017 - VIII ZR 98/16, NZM 2017, 358 Rn. 8 mwN; vom 23. Mai 2023 - VIII ZB 16/22, NJW-RR 2023, 1101 Rn. 18).

Rz. 15

Anders als die Rechtsbeschwerde meint, ergibt sich dies insbesondere nicht daraus, dass das Berufungsgericht bei seiner Ermessensentscheidung hinsichtlich der vom Kläger in der Berufungsinstanz vorgelegten Reparaturkostenkalkulation im Angebot der Beklagten vom 7. Dezember 2021 die dort mit einem Rabatt von 20 % berechneten Kosten (541,64 €) zugrunde gelegt hat, ohne den Rabatt herauszurechnen. Anhaltspunkte dafür, dass es sich um eine "zeitlich begrenzte Rabattaktion" gehandelt hätte, insbesondere dafür, dass die Beklagte den Rabatt - möglicherweise für die Inanspruchnahme des in dem Angebot sogenannten "V.                Service" - nicht auch bereits am Tag der Einlegung der Berufung (24. August 2021) gewährt hätte und damit zu diesem Zeitpunkt höhere Reparaturkosten angefallen wären, sind vom Kläger weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Rz. 16

cc) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist die Annahme eines den Betrag von 600 € nicht übersteigenden Werts des Beschwerdegegenstands durch das Berufungsgericht auch nicht deshalb ermessensfehlerhaft, weil dieses die im selbständigen Beweisverfahren durch die dort beauftragten Sachverständigen im Jahr 2017 (506,37 €) beziehungsweise im Jahr 2019 (438,34 €) ermittelten Kosten für die Durchführung der Reparaturmaßnahme berücksichtigt hat, ohne eine - aus Sicht der Rechtsbeschwerde gebotene - "Aktualisierung" der in diese Berechnungen eingestellten Arbeits- und Materialkosten bezogen auf den Zeitpunkt der Einlegung der Berufung (August 2021) vorzunehmen.

Rz. 17

Denn ungeachtet der Frage, ob eine fehlende "Aktualisierung" der Beträge ermessensfehlerhaft gewesen wäre, hat das Berufungsgericht zwischenzeitliche Preisänderungen der Sache nach berücksichtigt. Es hat im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung zur Bemessung des Werts des Beschwerdegegenstands auch die vom Kläger in der Berufungsinstanz eingereichten, aktuellen Kostenkalkulationen zugrunde gelegt. Es hat hierbei aber - was weder ermessensfehlerhaft ist noch von der Rechtsbeschwerde beanstandet wird - lediglich die von den Sachverständigen im selbständigen Beweisverfahren als erforderlich angesehenen Arbeitsschritte sowie Materialien berücksichtigt. Selbst unter Heranziehung der insoweit in diesen klägerseits vorgelegten Angeboten genannten Materialkosten und Stundensätzen gelangt das Berufungsgericht ermessensfehlerfrei zu einer Beschwer von höchstens 567,78 €.

Rz. 18

dd) Schließlich hat das Berufungsgericht auch nicht das Recht des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde insoweit, das Berufungsgericht habe sich bei der Bestimmung des Werts des Beschwerdegegenstands nicht mit dem Vortrag des Klägers zu der von ihm vorgelegten Reparaturkostenkalkulation vom 28. Dezember 2021 befasst, wonach selbst dann, wenn der Aufwand für den Umbau der Chromblenden herausgerechnet werde, ein Rechnungsendbetrag von über 600 € verbleibe.

Rz. 19

(1) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör als grundrechtsgleiches Recht soll sicherstellen, dass die Entscheidung des Gerichts frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. nur Senatsbeschluss vom 9. November 2021 - VIII ZR 184/20, juris Rn. 11 mwN).

Rz. 20

Das Verfahrensgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet aber nicht, dass das Gericht der Argumentation des Rechtsschutzsuchenden inhaltlich folgt. Des Weiteren ist das Gericht nicht gehalten, jedes Vorbringen ausdrücklich zu bescheiden; ein Gehörsverstoß ist daher nur feststellbar, wenn er sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt (vgl. BVerfG, NJW 2022, 3413 Rn. 27; BGH, Beschlüsse vom 29. November 2018 - I ZR 26/17, juris Rn. 4; vom 20. August 2019 - VIII ZB 19/18, NJW 2019, 3310 Rn. 11; vom 28. März 2023 - VI ZR 368/21, NJW-RR 2023, 840 Rn. 10; jeweils mwN).

Rz. 21

(2) Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Rz. 22

Das Berufungsgericht hat den Klägervortrag zu den Kosten für den Ein- und Ausbau von Chromblenden berücksichtigt. Diese in den beiden Kostenberechnungen der Sachverständigen im selbständigen Beweisverfahren nicht enthaltenen Arbeitsschritte hat es jedoch ebenso wenig als notwendige Reparaturkosten angesehen, wie - im Vergleich zu den Kostenangaben der Sachverständigen - das "Ersetzen" des Nachschalldämpfers und den Bedarf an weiteren, im vom Kläger vorgelegten Angebot enthaltenen Kleinteilen. Unter Abzug dieser nach Ansicht des Berufungsgerichts nicht erforderlichen Positionen ist es bezüglich des vom Kläger vorgelegten Angebots vom 28. Dezember 2021 im Ergebnis zu Reparaturkosten in Höhe von maximal 557,71 € gelangt. Fehler bei der Ermessensausübung sind auch insoweit nicht ersichtlich und von der Rechtsbeschwerde bezüglich der - nach Maßgabe der sachverständigen Ausführungen - erforderlichen Arbeitsschritte und der benötigten Materialien nicht aufgezeigt.

Rz. 23

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Dr. Bünger     

Dr. Schmidt     

Wiegand

Dr. Matussek     

Dr. Böhm     

 

Fundstellen

Haufe-Index 16114877

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