Verfahrensgang
LG Ingolstadt (Entscheidung vom 20.05.2021; Aktenzeichen 24 T 714/21) |
AG Ingolstadt (Entscheidung vom 10.03.2021; Aktenzeichen 4 XIV 70/21) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Ingolstadt vom 20. Mai 2021 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Ingolstadt vom 10. März 2021 den Betroffenen im Zeitraum bis zum 29. März 2021 in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene ist afghanischer Staatsangehöriger. Er reiste am 11. Februar 2021 aus Österreich in die Bundesrepublik ein, ohne über die erforderlichen Einreise- oder Aufenthaltsdokumente zu verfügen, und wurde an diesem Tag anlässlich einer grenzpolizeilichen Kontrolle aufgegriffen. Gegen den Betroffenen bestand ein Einreiseverbot bis 19. November 2021.
Rz. 2
Auf Antrag der beteiligten Behörde ordnete das Amtsgericht durch einstweilige Anordnung vom 12. Februar 2021 die vorläufige Freiheitsentziehung des Betroffenen bis einschließlich 10. März 2021 an. Den Aufgriff des Betroffenen meldete die beteiligte Behörde dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (fortan: Bundesamt) - nach einem Aktenvermerk "aufgrund einer Namensgleichheit mit einer bereits angelegten Person" - erst am 23. Februar 2021. Auf Bitten des Bundesamts um Übernahme des Betroffenen erklärte Österreich mit Schreiben vom 26. Februar 2021 seine Zuständigkeit.
Rz. 3
Auf weiteren Antrag der beteiligten Behörde vom 4. März 2021 hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 10. März 2021 Haft zur Sicherung der Überstellung des Betroffenen bis zum 9. April 2021 angeordnet. Die hiergegen zuletzt auf die Feststellung der Rechtsverletzung gerichtete Beschwerde des Betroffenen, der am 29. März 2021 nach Österreich überstellt wurde, ist vor dem Landgericht ohne Erfolg geblieben. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene seinen Feststellungsantrag weiter.
Rz. 4
II. Die nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Feststellung der Rechtsverletzung des Betroffenen durch die angeordnete Haft.
Rz. 5
1. Das Beschwerdegericht hat - soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren von Bedeutung - ausgeführt, die Voraussetzungen für die Haftanordnung hätten vorgelegen. Der Haftantrag sei zulässig und ausreichend begründet gewesen, insbesondere enthalte er eine in einzelne zeitliche Abschnitte gegliederte nachvollziehbare zeitliche Darstellung der Haftdauer. Die Gesamtdauer des Verfahrens sei mit acht Wochen schlüssig und nachvollziehbar vorgetragen. Danach seien die bisherigen drei Wochen Haftdauer benötigt worden für die Bearbeitungszeit bei der Bundespolizei und beim Bundesamt zwischen Aufgriff und Eingang des Wiederaufnahmegesuchs beim zuständigen Mitgliedstaat sowie die zweiwöchige Antwortfrist von Österreich. Das Beschleunigungsgebot sei trotz der wegen einer Namensverwechslung verzögerten Meldung an das Bundesamt nicht verletzt worden. Die Frist der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (fortan: Dublin-III-VO) habe dennoch eingehalten werden können, da Österreich bereits nach drei Tagen auf das Wiederaufnahmegesuch reagiert habe. Es stehe gerade nicht fest, dass dies auch der Fall gewesen wäre, wenn die Meldung an das Bundesamt nicht verzögert erfolgt wäre.
Rz. 6
2. Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts erweist sich die Haftanordnung im Ergebnis als unverhältnismäßig, weil das Verfahren nicht mit der größtmöglichen Beschleunigung betrieben wurde.
Rz. 7
a) Von Rechts wegen nicht zu beanstanden sind die Ausführungen zu dem Vorliegen eines zulässigen Haftantrages gemäß § 417 Abs. 2 FamFG. Insoweit erhebt der Betroffene auch keine Einwendungen.
Rz. 8
b) Mit Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde aber einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot, weil das Aufgreifen des Betroffenen am 11. Februar 2021 dem Bundesamt erst am 23. Februar 2021 gemeldet wurde.
Rz. 9
aa) Das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 GG sowie Art. 5 Abs. 4, Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Mai 2011 - V ZB 247/10, juris Rn. 6; vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 9/19, juris Rn. 11) und zusätzlich in Art. 28 Abs. 3 Dublin-III-VO geregelte Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen ist schon während des Laufs der Dreimonatsfrist des § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG zu beachten. Es schließt zwar einen organisatorischen Spielraum der Behörde nicht aus (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Februar 2023 - XIII ZB 68/21, juris Rn. 11; vom 22. Februar 2024 - XIII ZA 1/24, juris Rn. 15), verlangt aber, dass die beteiligte Behörde die Abschiebung oder Überstellung ohne vermeidbare Verzögerung betreibt und alle notwendigen Anstrengungen unternimmt, damit der Vollzug der Haft auf einen möglichst kurzen Zeitraum beschränkt werden kann. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht weiter aufrechterhalten werden darf (st. Rspr., vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09, juris Rn. 16; vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, juris Rn. 18; vom 10. Oktober 2013 - V ZB 25/13, juris Rn. 6; vom 11. Juli 2019 - V ZB 28/18, juris Rn. 7; vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 9/19, juris Rn. 12; vom 21. März 2023 - XIII ZB 32/22, juris Rn. 9). Hinsichtlich des Gebots, die Abschiebung des Betroffenen mit der größtmöglichen Beschleunigung zu betreiben, sind auch die vor der Haftanordnung liegenden - etwa aufgrund einer einstweiligen Anordnung vollzogenen - Zeiten relevant (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 21/20, juris Rn. 21 mwN; vgl. aber bei zwischenzeitlicher Entlassung des Betroffenen aus der Haft BGH, Beschluss vom 21. März 2023 - XIII ZB 32/22, juris Rn. 9 f.).
Rz. 10
bb) Danach kam es im vorliegenden Fall während der zu berücksichtigenden, mit Beschluss vom 12. Februar 2021 angeordneten vorläufigen Freiheitsentziehung wegen der erst nach zwölf Tagen erfolgten Meldung an das Bundesamt zu einem Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot, der zur Rechtswidrigkeit der Haft führte. In der Folge hätte die Haft auch nicht durch die angegriffene Anordnung vom 10. März 2021 unmittelbar fortgesetzt werden dürfen.
Rz. 11
(1) Entgegen der Rechtsauffassung des Beschwerdegerichts liegt ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor, obgleich die Fristen aus Art. 28 Abs. 3 Unterabsatz 1 und 2 Dublin-III-VO trotz der erst am 23. Februar 2021 erfolgten Stellung des Wiederaufnahmegesuchs durch das Bundesamt und der Aufnahmeerklärung durch Österreich am 26. Februar 2021 gewahrt werden konnten. Insoweit handelt es sich um Höchstfristen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. August 2020 - XIII ZB 45/19, juris Rn. 16). Sie entbinden die Behörden im Einzelfall nicht von der Pflicht, die Haft auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken und hierfür alle notwendigen Anstrengungen zu unternehmen.
Rz. 12
(2) Soweit das Beschwerdegericht seiner Beurteilung ferner die Möglichkeit zugrunde legt, dass die Verzögerung der Meldung sich wegen der (schnellen) Bearbeitung durch die österreichischen Behörden binnen drei Tagen nicht ausgewirkt hat, kann dahinstehen, ob die Behörde einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dadurch beseitigen kann, dass sie oder eine andere Behörde die Bearbeitung sodann zum Ausgleich der eingetretenen Verzögerung in besonderer Weise beschleunigt. Denn dass dies hier der Fall war, hat das Beschwerdegericht nicht festgestellt. Entsprechendes ist auch weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.
Rz. 13
(3) Schließlich genügt die Angabe der beteiligten Behörde, ursächlich für die verzögerte Meldung an das Bundesamt sei die Verwechslung mit einer namensgleichen Person gewesen, nicht für die Annahme einer noch verhältnismäßigen Haft. Zwar ist das Beschleunigungsgebot nicht schon verletzt, wenn einer der erforderlichen Bearbeitungsschritte nicht sofort erfolgt. Vielmehr reicht es im Hinblick auf den der Behörde zustehenden organisatorischen Spielraum aus, wenn die Vorbereitung der Abschiebung so vorangetrieben wird, dass es nicht zu unnötigen Verzögerungen kommt (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Februar 2023 - XIII ZB 68/21, juris Rn. 14). So liegt es hier aber nicht. Wie sich aus dem Antrag auf Anordnung der vorläufigen Freiheitsentziehung an das Amtsgericht Passau vom 12. Februar 2021 ergibt, hatte die beteiligte Behörde nach ihren eigenen Angaben aufgrund des Treffers in der EURODAC-Datenbank und der mitgeführten Dokumente Anhaltspunkte, die auf die Zuständigkeit Österreichs schließen ließen. Sie strebte deshalb von Beginn an in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt die Zurückschiebung nach Österreich an. Die erst nach zwölf Tagen erfolgte Meldung an das Bundesamt ist daher eine unnötige Verzögerung; sie bewegte sich nicht mehr im Rahmen des der Behörde zustehenden organisatorischen Spielraums.
Rz. 14
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
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Fundstellen
Haufe-Index 16461687 |
ZAR 2024, 45 |