Leitsatz (amtlich)
a) Eine Versäumung der Berufungsbegründungsfrist, weil ein Prozessbevollmächtigter erst am Tage ihres Ablaufs das Fehlen einer an das Berufungsgericht "mit der Bitte um Rückgabe" übersandten Abschrift des angefochtenen Urteils bemerkt hat, ist regelmäßig nicht unverschuldet i.S.v. § 233 ZPO.
b) Zum Umfang der Darlegungslast bei einem auf Erkrankung des Prozessbevollmächtigten gestützten Wiedereinsetzungsantrag.
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
OLG Köln (Beschluss vom 11.04.2003; Aktenzeichen 18 U 6/03) |
LG Aachen |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 18. Zivilsenats des OLG Köln v. 11.4.2003 wird auf Kosten des Klägers als unzulässig verworfen.
Beschwerdewert: 75.000 EUR
Gründe
I.#Der Kläger hat gegen das am 12.12.2002 zugestellte Urteil des LG, durch das seine Klage in einer gesellschaftsrechtlichen Streitigkeit abgewiesen worden ist, rechtzeitig Berufung eingelegt und eine Ausfertigung des erstinstanzlichen Urteils "mit der Bitte um Rückgabe" beigefügt. Mit Schriftsatz v. 10.2.2003 beantragte er durch seinen - bereits in 1. Instanz mit der Sache befassten - Prozessbevollmächtigten, RA Prof. Dr. S., eine Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 12.3.2003 mit der Begründung: "Wegen Arbeitsüberlastung war es bisher leider nicht möglich, die schwierige Angelegenheit mit der nötigen Sorgfalt zu durchdenken". Nach antragsgemäßer Fristverlängerung beantragte er mit Telefax v. 12.3.2003 eine erneute Verlängerung bis 12.4.2003 mit der Begründung, bei Vorlage der Akte am 12.3. sei festgestellt worden, dass sich darin kein Exemplar des erstinstanzlichen Urteils mehr befunden habe, weil die mit der Berufungsschrift übersandte Ausfertigung entgegen seiner Bitte von dem Berufungsgericht nicht zurückgesandt worden sei. Mit gleicher Begründung beantragte RA Prof. Dr. S. am 13.3.2003 "vorsorglich" Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist, nachdem er zuvor - auf telefonischen Hinweis der Senatsvorsitzenden des Berufungsgerichts - die Beklagten erfolglos um Zustimmung zu der primär beantragten Fristverlängerung ersucht hatte. Am 25.3.2003 beantragte der (in A. ansässige) RA Prof. Dr. S. erneut Wiedereinsetzung, wobei er nunmehr anwaltlich versicherte, es sei ihm wegen einer Augenerkrankung in den Tagen vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist unmöglich gewesen, Akten zu bearbeiten. Er habe sich deshalb an einen Spezialisten von der C. in B. gewandt, der ihn mit einer - zur Glaubhaftmachung vorgelegten - E-Mail v. 12.3.2003 unter dem Betreff "Re: Hornhautdystrophie" zu einer eventuell infrage kommenden Laser-Behandlung in seine Privatsprechstunde gebeten habe. Durch Beschluss v. 11.4.2003 hat das Berufungsgericht - nach vorheriger Ablehnung der beantragten Fristverlängerung - die Berufung des Klägers unter Zurückweisung seines Wiedereinsetzungsantrages als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.
II.#Die gem. §§ 238 Abs. 2, 522 Abs. 1 S. 4, 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist gem. § 574 Abs. 2 ZPO unzulässig, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
Es handelt sich um eine der Verallgemeinerung nicht zugängliche Einzelfallentscheidung. Die Ansicht des Berufungsgerichts, der Kläger habe nicht dargetan oder jedenfalls nicht glaubhaft gemacht, dass sein Prozessbevollmächtigter, dessen Verschulden er sich zurechnen lassen müsse (§ 85 Abs. 2 ZPO), an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist unverschuldet gehindert gewesen sei (§§ 233, 236 Abs. 2 S. 1, 294 ZPO), überspannt unter den vorliegenden Umständen auch nicht die an einen Wiedereinsetzungsgrund zu stellenden Anforderungen.
1.#Soweit der Kläger sich darauf beruft, dass sein Prozessbevollmächtigter wegen des ihm fehlenden erstinstanzlichen Urteils an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist gehindert gewesen sei, führt das nicht zum Erfolg. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, versteht es sich von selbst, dass ein pflichtbewusster Anwalt sich nicht der Unterlagen begibt, die er zur Fertigung einer Berufungsbegründung benötigt. Unverständlich ist daher schon, dass RA Prof. Dr. S. von den beiden in seinem Besitz befindlichen Urteilsabschriften eine an den Kläger und die andere an das Gericht übersandte, ohne sich eine Kopie für seine Handakten zu fertigen. Das gilt umso mehr, als seine gegenüber dem Gericht geäußerte floskelhafte "Bitte um Rückgabe" nicht erkennen ließ, dass er unverzügliche Rückgabe erwartete und hierauf zur Fertigung der Berufungsbegründung angewiesen sei, zumal er in der Berufungsschrift die Durchführung der Berufung ausdrücklich noch als offen bezeichnet hat. Ob unter diesen Umständen überhaupt ein Mitverschulden des Gerichts an der Fristversäumung anzunehmen ist, erscheint mehr als fraglich, kann aber dahinstehen, weil ein Verschulden des RA Prof. Dr. S. an der Fristversäumung dadurch weder ausgeschlossen würde (vgl. BGH, Urt. v. 5.4.1990 - VII ZR 215/89, MDR 1990, 813 = BGHR ZPO § 233 - Verschulden 5; Beschl. v. 4.2.1992 - X ZB 18/91, MDR 1992, 805 = NJW 1992, 1700; Beschl. v. 16.6.1994 - V ZB 12/94, MDR 1994, 1250 = NJW 1994, 2299; Beschl. v. 19.10.1994 - I ZB 7/94, MDR 1995, 925 = NJW-RR 1995, 574 [575]; Urt. v. 6.5.1999 - VII ZR 396/98, VersR 2000, 515 f.) noch bei wertender Betrachtung in den Hintergrund träte (vgl. BGH, Beschl. v. 26.4.2004 - II ZB 6/03, z.V.b.). Die bisher fehlende Rücksendung der an das Berufungsgericht übersandten Urteilsausfertigung hätte RA Prof. Dr. S. bereits auffallen und ihn zu einem "Nachhaken" veranlassen müssen, als er seinen Ersten - mit der Schwierigkeit der Sache begründeten - Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist v. 10.2.2003 stellte und ihm die Akten zu diesem Zweck vorgelegt wurden. Er konnte sich unter den gegebenen Umständen nicht ohne eigenes Zutun darauf verlassen, dass ihm die Urteilsausfertigung irgendwann doch noch rechtzeitig vor Ablauf der ggf. verlängerten Berufungsbegründungsfrist zugehen werde. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers handelt es sich hier nicht um die Perpetuierung eines anwaltlichen Fehlers durch rechtsfehlerhaftes Unterlassen eines Gerichts (dazu BVerfG, Beschl. v. 12.8.2002 - 1 BvR 399/02, MDR 2002, 1339 = NJW 2002, 2937), sondern umgekehrt um die Perpetuierung eines Unterlassens des Gerichts durch einen anwaltlichen Fehler. Nach allem hat es der Prozessbevollmächtigte des Klägers zumindest überwiegend selbst zu vertreten, dass ihm bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist keine Urteilsabschrift zur Verfügung stand.
2. Das von RA Prof. Dr. S. zu vertretende Fehlen der Urteilsabschrift stünde einer Wiedereinsetzung gem. § 233 ZPO allerdings dann nicht entgegen, wenn er ohnehin aus einem anderen Grund, nämlich wegen der von ihm angegebenen Augenerkrankung (Hornhautdystrophie), unverschuldet gehindert war, die Frist einzuhalten (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 24. Aufl., § 233 Rz. 22a m.w.N.).
a) Das Berufungsgericht hat dies nicht für hinreichend dargetan und glaubhaft gemacht erachtet. Dabei hat es - entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers - nicht die Erkrankung als solche, sondern die mit ihr begründete "Unmöglichkeit der Aktenbearbeitung" deshalb in Zweifel gezogen, weil der Klägervertreter sich weder in seinem Fristverlängerungsantrag v. 12.3.2003 noch in seinem ersten Wiedereinsetzungsantrag v. 13.3.2003 noch in der verspätet eingereichten Berufungsbegründung v. 17.3.2003 hierauf berufen, sondern diesen angeblichen Hinderungsgrund erst nachträglich - nach Stellungnahmen der Gegenseite - mit seinem erneuten Wiedereinsetzungsgesuch v. 25.3.2003 geltend gemacht hat, obwohl in Anbetracht des drohenden Rechtsmittelverlustes aller Anlass bestanden hätte, den angeblich zwingenden Hinderungsgrund, hätte er vorgelegen, sogleich vorzutragen. Weiter hat das Berufungsgericht zu Recht substantiierte Angaben über die Art und das Ausmaß der behaupteten Sehstörungen vermisst und darauf hingewiesen, dass die in der E-Mail des B. Arztes verwendete Bezeichnung "Hornhautdystrophie" (erbliche Hornhauttrübung; vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl.) eine gravierende, zur Unmöglichkeit der Aktenbearbeitung führende Sehstörung nicht belege, zumal Prof. Dr. S. im weiteren Verlauf zur Fertigung von Schriftsätzen durchaus in der Lage gewesen sei.
Insgesamt handelt es sich insoweit nicht um Fragen i.S.v. § 574 Abs. 2 ZPO, sondern um die richterliche Würdigung des Klägervorbringens im Rahmen von § 294 ZPO, bei der dem Berufungsgericht keine grundrechtsrelevanten Fehler unterlaufen sind. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers muss das Gericht eine anwaltliche Versicherung nicht ungeprüft hinnehmen, sondern hat sie daraufhin zu prüfen und zu würdigen, ob ihr Inhalt in Anbetracht der sonstigen Umstände des Einzelfalls überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. BGH, Beschl. v. 5.5.1976 - IV ZB 49/75, VersR 1976, 928; Zöller/Greger, ZPO, 24. Aufl., § 294 Rz. 6).
b) Davon abgesehen bliebe selbst unter Zugrundelegung des Klägervorbringens unklar, ob die angebliche Unfähigkeit des RA Prof. Dr. S. zur Aktenbearbeitung "in den Tagen vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist" auch noch am Tage ihres Ablaufs (12.3.2003) anhielt. Dagegen spricht sein - (nur) auf das Fehlen der Urteilsabschrift gestützter - Fristverlängerungsantrag von diesem Tage. Mit einem Erfolg dieses Antrags ohne Zustimmung der Gegenseite konnte er gem. § 520 Abs. 2 S. 2 ZPO nicht rechnen. Dass er an diesem Tag gesundheitlich (noch) nicht in der Lage gewesen wäre, statt des erwartbar erfolglosen Fristverlängerungsantrages die verspätet eingereichte, dreiseitige Berufungsbegründung zu fertigen, ist nicht dargetan. Offen ist weiter, ob die anscheinend in den Tagen davor akut aufgetretene Krankheitsphase vorhersehbar zum Ersten oder aber zum wiederholten Mal (rezidivierend) aufgetreten ist und RA Prof. Dr. S. es versäumt hat, rechtzeitig für einen Vertreter zu sorgen (vgl. BGH, Beschl. v. 26.2.1996 - II ZB 7/95, NJW 1996, 1540). Gegen eine erstmalige Krankheitsphase spricht, dass Prof. Dr. S. sich nicht an einen ortsansässigen Augenarzt in A., sondern an einen Professor für Augenheilkunde in B. gewandt hat und diesem die Diagnose des Grundleidens offenbar bekannt war. Offen ist schließlich, ob Prof. Dr. S. die Zustimmung der Beklagten zu einer nochmaligen Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist hätte erreichen können, wenn er sich mit deren Anwälten bei Beginn seiner Krankheitsphase unter Hinweis auf diese ins Benehmen gesetzt hätte. All diese Unklarheiten gehen zu Lasten des Klägers, weil er gem. § 236 Abs. 2 S. 1 ZPO das Fehlen eines (ihm zuzurechnenden) Verschuldens seines Anwalts an der Fristversäumung darzulegen und glaubhaft zu machen hat. Bleibt die Möglichkeit einer verschuldeten Fristversäumung offen, kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden (BGH, Beschl. v. 18.10.1995 - I ZB 15/95, MDR 1996, 315 = NJW 1996, 319; Zöller/Greger, ZPO, 24. Aufl., § 233 Rz. 22c m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 1171392 |
BGHR 2004, 1381 |
FamRZ 2004, 1550 |
NJW-RR 2004, 1500 |
JurBüro 2005, 54 |
ZAP 2004, 976 |
MDR 2004, 1195 |
RENOpraxis 2004, 170 |
ProzRB 2005, 39 |