Entscheidungsstichwort (Thema)
Selbstständiges Beweisverfahren. Nachträgliche anderweitige Gerichtsstandsvereinbarung. Bindende Verweisung des Verfahrens an Gericht der Verweisung. Zulässigkeit der Vorlage an BGH. Besonderer Gerichtsstand des Erfüllungsorts. Vereinbarung eines Gerichtsstands nach dem Entstehen der Streitigkeit. Willkür
Leitsatz (amtlich)
a) Auch im selbständigen Beweisverfahren wird die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts durch eine nachträgliche anderweitige Gerichtsstandsvereinbarung nicht berührt.
b) Auch im selbständigen Beweisverfahren ist die Verweisung des Verfahrens für das Gericht, an das die Sache verwiesen wird, bindend.
Normenkette
Zpo § 261 Abs. 3 Nr. 2; ZPO § 281 Abs. 2 S. 4, §§ 485, 36, 29, 281
Verfahrensgang
Tenor
Als zuständiges Gericht wird das LG Nürnberg-Fürth bestimmt.
Gründe
Rz. 1
I. Die in Nürnberg ansässige Antragstellerin, die sich als "Eigentümergemeinschaft" bezeichnet, schloss 1995 als damals offenbar aus neun Personen bestehende "Bauherrengemeinschaft" mit der Rechtsvorgängerin der in Bottrop ansässigen Antragsgegnerin einen Vertrag über die Errichtung einer Wohnanlage in Frankenheim bei Leipzig. Nr. 14 Satz 2 des Vertrags lautet: "Erfüllungsort und Gerichtsstand ist für beide Teile Nürnberg." Wegen Mängeln der Wohnanlage hat die Antragstellerin beim LG Leipzig die Begutachtung durch einen Sachverständigen im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens beantragt. Der Antrag ist der Antragsgegnerin zugestellt worden. Die Parteien haben gemeint, Nr. 14 Satz 2 des Vertrags enthalte eine wirksame Gerichtsstandsvereinbarung, und übereinstimmend eine Verweisung an das LG Nürnberg-Fürth beantragt. Am 28.9.2009 vereinbarten sie noch einmal die örtliche Zuständigkeit dieses Gerichts. Mit Beschluss vom 26.10.2009 hat sich das LG Leipzig für örtlich unzuständig erklärt und die Sache " ... auf übereinstimmenden Antrag der Antragstellerin und der Antragsgegnerin an das nach der Gerichtsstandsvereinbarung der Verfahrensbeteiligten vom 24./28.9.2009 gem. § 38 Abs. 3 Nr. 1 ZPO örtlich zuständige LG Nürnberg ..." verwiesen. Das LG Nürnberg-Fürth hat sich seinerseits für örtlich unzuständig erklärt und die Sache dem OLG Dresden zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.
Rz. 2
Das OLG hat die Sache dem BGH zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Es beabsichtigt, das LG Nürnberg-Fürth als zuständiges Gericht zu bestimmen, weil der Verweisungsbeschluss des LG Leipzig entsprechend § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO Bindungswirkung entfalte. Das OLG sieht sich aber an einer entsprechenden Entscheidung durch einen Beschluss des Pfälzischen OLG Zweibrücken vom 28.5.1997 (OLGR 1998, 181) gehindert.
Rz. 3
II. Die Vorlage ist gem. § 36 Abs. 3 ZPO zulässig.
Rz. 4
Gemäß § 36 Abs. 3 ZPO hat ein OLG, das mit der Zuständigkeitsbestimmung befasst ist, die Sache dem BGH vorzulegen, wenn es in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen OLG oder des BGH abweichen will. Diese Voraussetzung liegt vor. Das OLG meint, auch in einem selbständigen Beweisverfahren entfalteten Verweisungsbeschlüsse eine Bindungswirkung in entsprechender Anwendung des § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO. Damit will das vorlegende OLG in dieser Rechtsfrage von einer Entscheidung des Pfälzischen OLG Zweibrücken abweichen. Dieses nimmt an, für das selbständige Beweisverfahren komme eine analoge Anwendung des § 281 ZPO nicht in Betracht, möglich sei nur eine formlose Abgabe des Verfahrens (OLG Zweibrücken OLGReport Zweibrücken 1998, 181).
Rz. 5
III. Als zuständiges Gericht für die Entscheidung über den Antrag auf Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens ist das LG Nürnberg-Fürth zu bestimmen.
Rz. 6
1. Nach den gesetzlichen Zuständigkeitsregeln ist allerdings das LG Leipzig für diese Entscheidung zuständig. Ist ein Rechtsstreit in der Hauptsache noch nicht anhängig, ist der Antrag bei dem Gericht zu stellen, das nach dem Vortrag des Antragstellers zur Entscheidung in der Hauptsache berufen wäre, § 486 Abs. 2 Satz 1 ZPO. Dies ist hier das LG Leipzig.
Rz. 7
a) Ein ausschließlicher Gerichtsstand in Nürnberg ist nicht durch Nr. 14 Satz 2 des Vertrags begründet worden. Diese Gerichtsstandsklausel entfaltete gem. § 38 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 38 Abs. 3 ZPO nur dann Wirkung, wenn die Antragstellerin Kaufmann wäre. Für die Qualifikation der Antragstellerin als oHG und damit als Kaufmann bestehen jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die Antragstellerin hat weder zu ihrer Rechtsnatur noch dazu vorgetragen, ob ihr Zweck auf den Betrieb eines Handelsgewerbes gerichtet ist.
Rz. 8
b) Die örtliche Zuständigkeit des LG Leipzig folgt aus dem besonderen Gerichtsstand des Erfüllungsorts. Für Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis und über dessen Bestehen ist gem. § 29 Abs. 1 ZPO das Gericht des Ortes zuständig, an dem die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist. Erfüllungsort für die beiderseitigen Verpflichtungen aus einem Bauwerkvertrag ist regelmäßig der Ort des zu errichtenden Bauwerks (BGHZ 157, 20, 25 f.; BGH, Beschl. v. 5.12.1985 - I ARZ 737/85, NJW 1986, 935), hier Frankenheim bei Leipzig. Anderes ergibt sich auch nicht aus Nr. 14 Satz 2 des Vertrags. Die Vereinbarung von Nürnberg als Erfüllungsort wäre gem. § 29 Abs. 2 ZPO ebenfalls nur dann wirksam, wenn die Antragstellerin Kaufmann wäre, wofür jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte bestehen.
Rz. 9
c) Das LG Leipzig ist auch nicht durch die Vereinbarung der Parteien vom 24./28.9.2009 örtlich unzuständig geworden. Die Vereinbarung eines Gerichtsstands war nach dem Entstehen der Streitigkeit gem. § 38 Abs. 3 Nr. 1 ZPO möglich, berührt aber in entsprechender Anwendung des § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO die einmal bestehende Zuständigkeit des LG Leipzig für die Entscheidung im selbständigen Beweisverfahren nicht. Die Vorschrift des § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO ist im selbständigen Beweisverfahren zwar nicht unmittelbar anwendbar, weil eine Rechtshängigkeit der Streitsache nicht eintritt. Der Gesetzgeber hat auch nicht bestimmt, ob im selbständigen Beweisverfahren die Zuständigkeit des Gerichts durch eine Veränderung der sie begründenden Umstände berührt wird. Es ist jedoch sachgerecht, den in § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO niedergelegten Grundsatz auch auf das selbständige Beweisverfahren anzuwenden (OLG Celle OLGReport Celle 2005, 253, 254; OLG Frankfurt NJW-RR 1998, 1610; Fischer, MDR 2001, 608, 610). Das selbständige Beweisverfahren soll vor allem die Vermeidung oder die zügige Erledigung von Rechtsstreitigkeiten fördern und damit der Prozesswirtschaftlichkeit dienen. Diesem Zweck entspricht es, das Verfahren möglichst bei dem zunächst angerufenen Gericht abzuschließen (BGH, Beschl. v. 22.7.2004 - VII ZB 3/03, NZBau 2004, 550; OLG Schleswig OLGReport Schleswig 2009, 828, 829). Hiermit wäre nicht vereinbar, könnten die Parteien die Zuständigkeit des zunächst angerufenen Gerichts während der gesamten Dauer des selbständigen Beweisverfahrens durch die nachträgliche Vereinbarung eines ausschließlichen Gerichtsstands beseitigen. Eine nach erfolgter Zustellung oder Übersendung des Antrags auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens an den Antragsgegner getroffene Gerichtsstandsvereinbarung berührt die bestehende Zuständigkeit des angerufenen Gerichts im selbständigen Beweisverfahren daher ebenso wenig wie im Klageverfahren (dazu BGH, Beschl. v. 16.11.1962 - III ARZ 123/62, NJW 1963, 585, 586; Bork in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 38 Rz. 62; Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 261 Rz. 12; a.A. Becker-Eberhard in MünchKomm/ZPO, 3. Aufl., § 261 Rz. 93). Hier erfolgte die Gerichtsstandsvereinbarung nach der Zustellung des Antrags auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens, so dass die Zuständigkeit des LG Leipzig hiervon nicht berührt worden ist.
Rz. 10
2. Als zuständiges Gericht ist das LG Nürnberg-Fürth deshalb zu bestimmen, weil es an den Verweisungsbeschluss des LG Leipzig gebunden ist.
Rz. 11
a) Verweisungsbeschlüsse wirken in entsprechender Anwendung des § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO auch im selbständigen Beweisverfahren bindend, wenn dem Antragsgegner der Antrag auf Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens zuvor zugestellt oder übersandt worden ist.
Rz. 12
Ob Verweisungsbeschlüsse im selbständigen Beweisverfahren Bindungswirkung entfalten, wird nicht einheitlich beurteilt (befürwortend OLG Brandenburg OLGReport Brandenburg 2006, 677, 678; OLG Frankfurt NJW-RR 1998, 1610; Fischer, MDR 2001, 608, 611; Leipold in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 486 Rz. 34; hierzu neigend auch OLG Schleswig OLGReport Schleswig 2009, 828, 829 f.; ablehnend OLG Zweibrücken OLGReport Zweibrücken 1998, 181; Musielak/Huber, ZPO, 7. Aufl., § 486 Rz. 3; Zöller/Herget, ZPO, 28. Aufl., § 486 Rz. 2; s. auch OLG Celle OLGReport Celle 2005, 253, 254).
Rz. 13
Die Vorschrift des § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO ist im selbständigen Beweisverfahren zwar nicht unmittelbar anwendbar, weil dieses Verfahren kein Rechtsstreit im Sinne dieser Vorschrift ist. Allein das formale Argument, das selbständige Beweisverfahren begründe nicht die in § 281 ZPO vorausgesetzte Rechtshängigkeit der Hauptsache (so insb. OLG Zweibrücken OLGReport Zweibrücken 1998, 181), spricht jedoch nicht gegen eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift, wie sich etwa an der ständigen Rechtsprechung zeigt, die Verweisungen im Prozesskostenhilfeverfahren Bindungswirkung beimisst (statt aller BGH, Beschl. v. 9.3.1994 - XII ARZ 8/94, NJW-RR 1994, 706). Es ist vielmehr sachgerecht, die Vorschrift des § 281 ZPO auch auf das selbständige Beweisverfahren entsprechend anzuwenden. Sinn und Zweck der in § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO angeordneten Bindungswirkung, Zuständigkeitsstreitigkeiten und dadurch bewirkte Verzögerungen zu vermeiden und hierzu auch sachlich unrichtige Verweisungsbeschlüsse hinzunehmen, sind im selbständigen Beweisverfahren mindestens ebenso bedeutsam wie im Klageverfahren. Das selbständige Beweisverfahren dient gerade dazu, schnelle Feststellungen zur Vermeidung oder Vorbereitung eines Rechtsstreits zu ermöglichen. Hiermit wäre die ohne eine Bindungswirkung eröffnete Möglichkeit der Hin-, Rück- oder Weiterverweisung nicht zu vereinbaren.
Rz. 14
b) Die Voraussetzungen, unter denen ein Verweisungsbeschluss ausnahmsweise nicht bindend wirkt, liegen nicht vor.
Rz. 15
Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH kann ein Verweisungsbeschluss u.a. dann nicht als verbindlich hingenommen werden, wenn er auf Willkür beruht. Hierfür genügt es nicht, dass der Beschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist. Willkür liegt nur vor, wenn dem Verweisungsbeschluss jede rechtliche Grundlage fehlt, insb. wenn er bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BGH NJW-RR 2008, 1309). Bei Anlegung dieses Maßstabs ist der Verweisungsbeschluss des LG Leipzig nicht willkürlich.
Rz. 16
Das LG Leipzig hat seinen Verweisungsbeschluss ausschließlich auf die durch die nachträgliche Gerichtsstandsvereinbarung begründete örtliche Zuständigkeit des LG Nürnberg-Fürth gestützt. Offenbar ist das LG Leipzig irrig davon ausgegangen, durch diese Vereinbarung örtlich unzuständig geworden zu sein, ohne dies allerdings auszusprechen. Dieser Rechtsfehler allein vermag den Vorwurf der Willkür nicht zu begründen. Es bedarf zusätzlicher Umstände, die die getroffene Entscheidung als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar erscheinen lassen (BGH, Beschl. v. 9.7.2002 - X ARZ 110/02, NJW-RR 2002, 1498). Derartige Umstände liegen hier, wie im Vorlagebeschluss des OLG zutreffend ausgeführt, nicht vor.
Rz. 17
Eine Verweisung ist u.a. dann nicht mehr nachvollziehbar, wenn sie die Bindungswirkung nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO missbraucht. Dies kann anzunehmen sein, wenn das verweisende Gericht eine etwaige Fehlerhaftigkeit der Verweisung erkennt und trotzdem eine sorgfältige Prüfung seiner Zuständigkeit in der Absicht unterlässt, jedenfalls eine Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses herbeizuführen. Eine solche Verweisung missachtet die gesetzlichen Zuständigkeitsregeln und das Prinzip des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise auch dann, wenn sie dem übereinstimmenden Parteiwillen entspricht. Für die Annahme, das LG Leipzig habe mit der Verweisung ohne Rücksicht auf deren mögliche Fehlerhaftigkeit ausschließlich den Zweck verfolgt, das LG Nürnberg-Fürth zu binden, bestehen allerdings keine hinreichenden Anhaltspunkte. Solche ergeben sich nicht aus dem Umstand, dass die Verfahrensbevollmächtigten der Antragsgegnerin nach einem Telefonat mit der Einzelrichterin des LG Leipzig dieser am 23.9.2009 den Beschluss des BGH vom 27.5.2008 (BGH NJW-RR 2008, 1309) übersandt haben. Mit diesem Beschluss hat der BGH entschieden, eine nur mit § 38 Abs. 1 ZPO begründete Verweisung sei nicht willkürlich, wenn beide Parteien die Verweisung unter Bezugnahme auf eine vertragliche Gerichtsstandsvereinbarung begehrt haben. Gegenstand dieser Entscheidung war eine fehlerhafte Verweisung, die auf eine vor Entstehen der Streitigkeit getroffene Gerichtsstandsvereinbarung i.S.d. § 38 Abs. 1 ZPO gestützt worden war. Eine derartige Verweisung hat das LG Leipzig jedoch gerade nicht vorgenommen, vielmehr sind die zunächst auf Nr. 14 Satz 2 des Vertrags gestützten Verweisungsanträge der Parteien erfolglos geblieben. Die Verweisung ist erst auf die danach geschlossene Gerichtsstandsvereinbarung der Parteien nach § 38 Abs. 3 Nr. 1 ZPO hin erfolgt. Eine solche war aber nicht Gegenstand des übersandten Beschlusses. Deshalb kann ohne weitere Anhaltspunkte nicht davon ausgegangen werden, die Einzelrichterin des LG Leipzig habe aufgrund des übersandten Beschlusses die mögliche Fehlerhaftigkeit einer auf § 38 Abs. 3 Nr. 1 ZPO gestützten Verweisung erkannt, diese aber zu dem Zweck hingenommen, eine Bindungswirkung herbeizuführen. Angesichts des übereinstimmenden Verweisungsbegehrens der Parteien schadet auch nicht, dass der Verweisungsbeschluss nicht näher begründet worden ist. Dies war ersichtlich durch die Übereinstimmung der Parteien verursacht. In solchen Fällen begründet das Fehlen einer näheren Begründung nicht die Willkürlichkeit der Verweisung (BGH, Beschl. v. 23.3.1988 - IVb ARZ 8/88, FamRZ 1988, 943; BGH NJW-RR 2008, 1309, 1310).
Fundstellen