Verfahrensgang
LG Duisburg (Entscheidung vom 11.10.2022; Aktenzeichen 13 S 10/22) |
AG Mülheim a.d. Ruhr (Entscheidung vom 09.12.2021; Aktenzeichen 12 C 2311/13) |
Nachgehend
Tenor
Die Zwangsvollstreckung aus der durch Urteil des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr vom 9. Dezember 2021 ausgesprochenen Räumungsverpflichtung wird bis zur Entscheidung des Senats über die Rechtsbeschwerde der Beklagten mit der Maßgabe eingestellt, dass die Zwangsvollstreckung unzulässig bleibt, wenn die Beklagten ab August 2023 die Zahlung der vertraglich vereinbarten Monatsmiete zuzüglich Nebenkostenvorauszahlung gemäß den Bedingungen des Mietvertrags an den Kläger vornehmen.
Gründe
Rz. 1
1. Das Rechtsbeschwerdegericht kann im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 570 Abs. 3 Halbs. 1, § 575 Abs. 5 ZPO auch die Vollziehung einer Entscheidung der ersten Instanz aussetzen, wenn hierdurch dem Rechtsbeschwerdeführer größere Nachteile drohen als dem Gegner, die Rechtsbeschwerde zulässig erscheint und die Rechtsmittel des Rechtsbeschwerdeführers nicht von vornherein ohne Erfolgsaussicht sind (Senatsbeschlüsse vom 4. Februar 2010 - VIII ZB 84/09, WuM 2010, 252 Rn. 1; vom 18. Mai 2010 - VIII ZB 9/10, juris Rn. 1; vom 15. November 2011 - VIII ZB 95/11, WuM 2011, 703 Rn. 1; vom 14. Februar 2012 - VIII ZB 3/12, WuM 2012, 158 Rn. 3; vom 28. September 2021 - VIII ZB 43/21, WuM 2022, 57 Rn. 1; vom 3. Juni 2022 - VIII ZB 44/22, WuM 2022, 559 Rn. 1). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Rz. 2
a) Durch die Vollstreckung des Räumungsurteils würde den Beklagten als Rechtsbeschwerdeführer ein unwiederbringlicher Nachteil entstehen. Diese sehen sich einem nicht rückgängig machbaren Verlust der Mietwohnung ausgesetzt; andererseits drohen dem Kläger durch einen Aufschub der Vollstreckung bis zur Entscheidung des Senats über die Rechtsbeschwerde keine wesentlichen (zusätzlichen) Nachteile, wenn - wie im Tenor ausgesprochen - die weitere Einstellung der Vollstreckung unter der Bedingung steht, dass die Beklagten die jeweilige monatliche Miete zuzüglich der Nebenkostenvorauszahlung in den künftigen Monaten fristgerecht leisten.
Rz. 3
b) Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Zwar hat das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Es hätte aber durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO entscheiden müssen, weil es die Berufung wegen Versäumens der Berufungsbegründungsfrist nach § 522 Abs. 1, § 520 Abs. 2 ZPO für unzulässig erachtet hat. Der Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO war nicht zulässig, weil die Zurückweisung der Berufung nach dieser Vorschrift die Zulässigkeit der Berufung voraussetzt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. August 2016 - VI ZB 17/16, NJW 2016, 3380 Rn. 6; vom 8. Mai 2018 - XI ZR 538/17, NJW 2018, 2269 Rn. 13; Musielak/Voit/Ball, ZPO, 20. Aufl., § 522 Rn. 20). Durch den Fehler des Berufungsgerichts dürfen dem Rechtsmittelführer keine Nachteile entstehen. Vielmehr darf er das Rechtsmittel einlegen, das bei richtiger Entscheidung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO statthaft wäre (Grundsatz der Meistbegünstigung, vgl. Senatsbeschlüsse vom 16. Oktober 2002 - VIII ZB 27/02, BGHZ 152, 213, 216; vom 20. Dezember 2011 - VIII ZB 59/11, WuM 2012, 114 Rn. 4); dies ist vorliegend die Rechtsbeschwerde gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO (vgl. BGH, Beschluss vom 16. August 2016 - VI ZB 17/16, aaO mwN; Musielak/Voit/Ball, aaO Rn. 29).
Rz. 4
c) Der im Übrigen nach § 575 Abs. 1 Satz 1, 2 ZPO frist- und formgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde ist in der Sache eine Erfolgsaussicht nicht von vornherein abzusprechen.
Rz. 5
aa) Das Berufungsgericht hat die von den Beklagten mit Schriftsatz vom 6. April 2022 beantragte Wiedereinsetzung allein deshalb versagt, weil diese Wiedereinsetzung "gegen die Versäumung der Frist zur Beantragung der Verlängerung der Berufungsbegründung" beantragt hätten, nicht aber einen Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Berufung. Die Frist zur Beantragung der Verlängerung der Berufungsbegründung sei jedoch nicht wiedereinsetzungsfähig, da es sich nicht um eine Notfrist handele. Dabei hat das Berufungsgericht versäumt zu prüfen, ob der von den Beklagten gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung "gegen die Versäumung der Frist zur Beantragung der Verlängerung der Berufungsbegründung" als ein Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist hätte ausgelegt werden können (vgl. Senatsbeschluss vom 5. April 2011 - VIII ZB 81/10, NJW 2011, 1601 Rn. 13 ff. mwN), was eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen lässt.
Rz. 6
bb) Darüber hinaus dürfte der angefochtene Beschluss auch deshalb aufzuheben sein, weil er nicht mit den nach § 576 Abs. 3, § 547 Nr. 6 ZPO erforderlichen Gründen versehen ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, den maßgeblichen Sachverhalt, über den entschieden wird, wiedergeben und den Streitgegenstand und die Anträge in beiden Instanzen erkennen lassen (siehe nur Senatsbeschluss vom 8. März 2022 - VIII ZB 96/20, NJW-RR 2022, 644 Rn. 14 mwN). In einem die Berufung nach § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO verwerfenden Beschluss ist zwar die Wiedergabe des Sachverhalts und der Anträge nicht ausnahmslos erforderlich. Der Beschluss kann sich etwa bei Verwerfung der Berufung wegen nicht gewahrter Berufungsfrist (§ 517 ZPO) oder Berufungsbegründungsfrist (§ 520 Abs. 2 ZPO) auf die entscheidungserheblichen Umstände beschränken. Die Entscheidung des Berufungsgerichts muss aber auch in diesen Fällen jedenfalls die die Verwerfung tragenden Feststellungen enthalten, weil anderenfalls dem Rechtsbeschwerdegericht die Überprüfung der Entscheidung nicht möglich ist (vgl. Senatsbeschluss vom 22. November 2022 - VIII ZB 28/21, NJW-RR 2023, 208 Rn. 5; vom 8. März 2022 - VIII ZB 96/20, NJW-RR 2022, 644 Rn. 14).
Rz. 7
Dem dürfte die angefochtene Entscheidung nicht gerecht werden. Weder dem Zurückweisungsbeschluss vom 11. Oktober 2022 noch dem in Bezug genommenen Hinweisbeschluss vom 24. August 2022 lassen sich Angaben zur Nachholung der versäumten Prozesshandlung und zum Wiedereinsetzungsvorbringen entnehmen. Dem Rechtsbeschwerdegericht ist deshalb die Prüfung der Voraussetzungen der §§ 233 ff. ZPO und damit im Ergebnis die Prüfung der Zulässigkeit der Berufung der Beklagten nicht möglich.
Rz. 8
cc) Nach alledem kann die Erfolgsaussicht der Rechtsbeschwerde derzeit nicht verneint werden.
Rz. 9
2. Soweit das Berufungsgericht in seinem Hinweisbeschluss vom 24. August 2022 hilfsweise ausgeführt hat, dass die Berufung auch unbegründet sei, gilt dieser Teil der angefochtenen Entscheidung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als nicht geschrieben (vgl. nur BGH, Urteil vom 19. Oktober 2012 - V ZR 233/11, juris Rn. 14; Beschluss vom 7. Oktober 2021 - I ZB 78/18, GRUR 2022, 156 Rn. 27). Das Revisionsgericht darf in diesen Fällen - was auch für das Rechtsbeschwerdeverfahren gilt (§ 577 Abs. 3 ZPO) - von der grundsätzlich gebotenen Aufhebung und Zurückverweisung nur absehen und sachlich entscheiden, wenn die Berufungsentscheidung einen Sachverhalt ergibt, der für die rechtliche Beurteilung eine verwertbare tatsächliche Grundlage bietet, und wenn bei Zurückverweisung ein anderes Ergebnis nicht möglich erscheint (BGH, Beschlüsse vom 8. Mai 2018 - XI ZR 538/17, NJW 2018, 2269 Rn. 20; vom 7. Oktober 2021 - I ZB 78/18, GRUR 2022, 156 Rn. 27). Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben.
Dr. Bünger |
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Kosziol |
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Dr. Liebert |
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Dr. Schmidt |
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Wiegand |
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Fundstellen