Leitsatz (amtlich)
Schriftliche Erklärungen des Zielstaats, ohne die der Betroffene nicht abgeschoben werden kann, sind Unterlagen i.S.d. § 62 Abs. 4 Satz 3 AufenthG.
Normenkette
AufenthG § 62 Abs. 4 S. 3
Verfahrensgang
LG Bremen (Beschluss vom 28.11.2017; Aktenzeichen 10 T 614/17) |
AG Bremen (Beschluss vom 16.11.2017; Aktenzeichen 92b XIV 347/17) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 10. Zivilkammer des LG Bremen vom 28.11.2017 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 EUR.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene ist algerischer Staatsangehöriger. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte seinen Asylantrag mit bestandskräftigem Bescheid vom 25.9.2003 als offensichtlich unbegründet ab. Mit Verfügung vom 16.3.2017 ordnete der Senator für Inneres der Freien Hansestadt Bremen auf der Grundlage des § 58a AufenthG die Abschiebung des Betroffenen nach Algerien mit der Begründung an, von diesem gehe die Gefahr eines terroristischen Anschlags aus. Diese Verfügung wurde dem Betroffenen am 21.3.2017 ausgehändigt. Am selben Tag wurde gegen ihn Haft zur Sicherung der Abschiebung nach Algerien angeordnet. Die Haft wurde im weiteren Verlauf mehrfach verlängert.
Rz. 2
Den Antrag des Betroffenen, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Verfügung des Senators anzuordnen, lehnte das BVerwG durch Beschluss vom 31.5.2017 (1 VR 4/17, juris, Tenor in BeckRS 2017, 113651) mit der Maßgabe ab, dass der Betroffene "erst nach Erlangung einer Zusicherung einer algerischen Regierungsstelle abgeschoben werden darf, wonach dem Betroffenen in Algerien keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht (Art. 3 EMRK)". Die Annahme der gegen diesen Beschluss gerichteten Verfassungsbeschwerde des Betroffenen lehnte das BVerfG mit Beschluss vom 24.7.2017 ab, forderte jedoch zusätzlich die Klarstellung, dass die Bedingungen einer etwaigen Haft der Kontrolle zugänglich sein müssten und dass der Zugang zu dem Betroffenen in einer etwaigen Haft, gleich ob eine Inhaftierung durch Polizei oder Geheimdienst erfolge, durch seinen Prozessbevollmächtigten sichergestellt sein müsse (vgl. BVerfG, InfAuslR 2017, 431 Rz. 50).
Rz. 3
Die Bemühungen des Auswärtigen Amtes um entsprechende Erklärungen der algerischen Regierung führten zu einer Verbalnote vom 30.7.2017, in welcher sich die algerische Regierung mit der Rückführung des Betroffenen einverstanden erklärte und dieses Einverständnis mit der Feststellung verband, dass der Betroffene in Algerien auf justizieller Ebene unbekannt und gegen ihn kein Strafverfahren anhängig sei. In Bezug auf die geforderten diplomatischen Zusicherungen zum Schutz des Betroffenen vor einer menschenrechtswidrigen Behandlung wird darin allgemein darauf verwiesen, dass in Algerien die unabhängige Justiz für die Wahrung aller in der Verfassung verankerten und durch die algerischen Gesetze sowie in internationalen Übereinkommen festgelegten Rechte und Grundfreiheiten in Bezug auf die Nichtanwendung strenger, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung sorge. Diese Erklärung hielt das BVerwG nicht für ausreichend und untersagte der beteiligten Behörde mit Beschluss vom 13.11.2017 (1 VR 13/17, juris), den Betroffenen auf der Grundlage der bisher eingegangenen Verbalnoten des algerischen Außenministeriums nach Algerien abzuschieben.
Rz. 4
Mit Beschluss vom 16.11.2017 hat das AG den Antrag der beteiligten Behörde auf weitere Verlängerung der Sicherungshaft gegen den Betroffenen abgelehnt. Auf die Beschwerde der beteiligten Behörde hat das LG nach Erlass einer einstweiligen Anordnung am 21.11.2017 mit Beschluss vom 28.11.2017 weitere Sicherungshaft gegen den Betroffenen bis zum 16.1.2018 angeordnet. Dagegen wendet sich dieser mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt. Den zugleich gestellten Antrag des Betroffenen, die Vollziehung des Beschlusses des LG bis zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde auszusetzen, hat der BGH mit Beschluss vom 21.12.2017 (V ZB 249/17, InfAuslR 2018, 99) zurückgewiesen.
Rz. 5
II. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.
Rz. 6
1. Das Beschwerdegericht sieht die Voraussetzungen für eine weitere Verlängerung der gegen den Betroffenen angeordneten Sicherungshaft als gegeben an. § 62 Abs. 4 Satz 3 AufenthG in der bis zum 20.8.2019 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) erlaube eine Verlängerung der Haft über sechs Monate hinaus auf bis zu 18 Monate, soweit die Haft auf der Grundlage von § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG a.F. (= § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG n.F.) angeordnet worden sei und sich die Übermittlung der für die Abschiebung erforderlichen Unterlagen durch den zur Aufnahme verpflichteten oder bereiten Drittstaat verzögere. Zu den "erforderlichen Unterlagen" im Sinne der Vorschrift gehörten auch die hier von den algerischen Behörden erbetenen Zusicherungen.
Rz. 7
Es sei auch hinreichend wahrscheinlich, dass die algerischen Behörden innerhalb der höchstzulässigen Haftdauer die für die Durchführung der Abschiebung erforderlichen Zusicherungen abgäben. Zwar hätten die Bemühungen des Auswärtigen Amtes bislang nicht zur Abgabe von Erklärungen geführt, die den Anforderungen genügten. Auch habe das Auswärtige Amt weitere Bemühungen auf diplomatischem Wege als aussichtslos angesehen. Es bestehe aber die Aussicht, dass die erforderliche Zusicherung auf dem Wege der polizeilichen Zusammenarbeit unter Einschaltung des algerischen Innenministeriums doch noch zu erreichen sei.
Rz. 8
2. Zu Recht geht das Beschwerdegericht von einem zulässigen Haftantrag, von der vollziehbaren Ausreisepflicht des Betroffenen nach §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 Nr. 5a AufenthG und vom Vorliegen des Haftgrundes des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG a.F. aus. Insoweit wird auf die Ausführungen in dem Beschluss des BGH vom 21.12.2017 (V ZB 249/17, InfAuslR 2018, 99 Rz. 10 f.) verwiesen.
Rz. 9
3. Die Haftanordnung war auch verhältnismäßig. Die Prognoseentscheidung des Beschwerdegerichts ist entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht zu beanstanden.
Rz. 10
a) Zutreffend hält es das Beschwerdegericht für unschädlich, dass aus seiner Perspektive die erforderliche Zusicherung Algeriens realistischerweise nicht bis zum Ende der beantragten Haftzeit zu erlangen war.
Rz. 11
Der BGH hat bereits entschieden, dass das Beschwerdegericht, wenn es über die Beschwerde eines Betroffenen gegen eine Haftanordnung durch das AG befindet, den noch nicht abgelaufenen Teil der angeordneten Sicherungshaft nicht aufzuheben hat, wenn die Abschiebung innerhalb des angeordneten Haftzeitraumes zwar nicht mehr realistisch erscheint, jedoch zu erwarten ist, dass die Haft aufgrund eines entsprechenden bereits gestellten oder vorbereiteten Haftantrags verlängert wird. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Voraussetzungen für die Haftanordnung unverändert gegeben sind (vgl. BGH, Beschl. v. 19.7.2018 - V ZB 179/15, InfAuslR 2018, 415 Rz. 21, 23 und Beschl. v. 27.6.2019 - V ZB 51/19, juris Rz. 6). Für den vorliegenden Fall, dass das AG den Haftantrag abgelehnt hat und das Beschwerdegericht auf die Beschwerde der beteiligten Behörde die Haft anordnet, kann nichts anderes gelten.
Rz. 12
b) Das Beschwerdegericht hat weiter zutreffend angenommen, dass der Versuch, die erforderliche Zusicherung Algeriens doch noch zu erlangen, zum Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht gescheitert, sondern noch aussichtsreich war. Insoweit wird auf die Ausführungen in dem Beschluss des BGH vom 21.12.2017 (InfAuslR 2018, 99 Rz. 17-21) verwiesen.
Rz. 13
c) Ohne Rechtsfehler hat das Beschwerdegericht schließlich angenommen, dass die Voraussetzungen für die Anordnung einer über die Dauer von sechs Monaten hinausgehenden Sicherungshaft nach § 62 Abs. 4 Satz 3 AufenthG a.F. vorlagen. Es durfte daher zum einen eine über sechs Monate hinausgehende Haft bis zum 16.1.2018 anordnen und zum anderen seiner Prognose zugrunde legen, die Erlangung der erforderlichen Zusicherung Algeriens sei jedenfalls innerhalb einer maximalen Dauer der Haft von 18 Monaten realistisch.
Rz. 14
aa) Frühere Haftzeiten sind in die Gesamtdauer der Sicherungshaft mit einzubeziehen, wenn diese zur Durchsetzung derselben - auf einem einheitlichen Sachverhalt beruhenden - Ausreisepflicht ergingen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn durch eine Lücke zwischen den Haftabschnitten eine Zäsur eingetreten ist, etwa wenn zwischen den Haftzeiträumen eine Kluft von mehreren Jahren entstanden ist (vgl. BGH, Beschl. v. 13.2.2012 - V ZB 46/11, juris Rz. 13 m.w.N.).
Rz. 15
Danach ist die Haftdauer ab der ersten Haftanordnung, also ab dem 21.3.2017, zu berechnen. Daran ändert es nichts, dass die mit Beschluss vom 20.6.2017 angeordnete Verlängerung der Haft durch Beschluss des Beschwerdegerichts vom 28.7.2017 aufgehoben und zugleich festgestellt wurde, dass die Haft im Zeitraum vom 20.6.2017 bis zum 28.7.2017 rechtswidrig war. Dies bedeutete keine Zäsur in dem genannten Sinn. Der Betroffene befand sich über den gesamten Zeitraum in Haft - bis auf eine kurze Unterbrechung der Sicherungshaft vom 16. bis 21.11.2017. Seine Inhaftierung diente stets der Sicherung der Abschiebung im Hinblick auf die Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG vom 16.3.2017, beruhte also auf einem einheitlichen Sachverhalt.
Rz. 16
bb) Das Beschwerdegericht hatte die Voraussetzungen des § 62 Abs. 4 Satz 3 AufenthG a.F. trotz der Tatsache zu prüfen, dass die Haft bereits mit rechtskräftigem Beschluss vom 18.9.2017 über eine Haftzeit von sechs Monaten hinaus verlängert worden war und dabei die Voraussetzungen des § 62 Abs. 4 Satz 3 AufenthG a.F. bejaht worden waren. Denn Entscheidungen über die Anordnung oder Verlängerung der Haft sind nur der formellen, nicht der materiellen Rechtskraft fähig. Es ist daher unerheblich, ob sich eine etwa fehlende Berechtigung der Inhaftierung aus neuen Umständen oder daraus ergibt, dass die Haft nicht hätte angeordnet oder verlängert werden dürfen. Unerheblich ist daher auch, dass der Betroffene eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haftanordnung oder -verlängerung schon mit den gegen diese Entscheidungen statthaften Rechtsmittel hätte erreichen können. Die damit einhergehende mehrfache Prüfung ist bei einer Freiheitsentziehung nicht zu vermeiden (vgl. zum Ganzen BGH, Beschl. v. 18.9.2008 - V ZB 129/08 NJW 2009, 299 Rz. 19 m.w.N.).
Rz. 17
cc) Die Voraussetzungen des § 62 Abs. 4 Satz 3 AufenthG a.F. liegen vor, denn die Haft wurde auf der Grundlage einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG angeordnet und die Übermittlung der für die Abschiebung erforderlichen Unterlagen durch den zur Aufnahme verpflichteten oder bereiten Drittstaat verzögerte sich. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde handelt es sich bei der erforderlichen Zusicherung Algeriens um "Unterlagen" im Sinne dieser Vorschrift.
Rz. 18
(1) Nach dem Wortlaut der Norm ("für die Abschiebung erforderlichen Unterlagen") fallen unter diesen Begriff sämtliche Schriftstücke, die die Durchführung der Abschiebung erst ermöglichen, also auch die von BVerfG und BVerwG geforderte Zusicherung Algeriens, ohne die eine Abschiebung des Betroffenen nicht durchgeführt werden kann. Aus dem Wortlaut ergibt sich nicht, dass damit nur Pässe oder Passersatzpapiere gemeint sind. Dieses Verständnis wird durch den Zweck der Vorschrift bestätigt. Dieser besteht darin, eine Abschiebung nicht an Gründen scheitern zu lassen, auf welche die deutschen Behörden keinen Einfluss haben, wie etwa Verzögerungen bei der Beschaffung der Zusicherung Algeriens. Dass der Betroffene auf diese Gründe auch keinen Einfluss hat und sich die Haftdauer durch die Verzögerungen des Drittstaats erheblich verlängern kann, nimmt der Gesetzgeber im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur in dem hier gegebenen Fall der Sicherungshaft aufgrund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG hin, die Voraussetzung für eine Haftverlängerung nach § 62 Abs. 4 Satz 3 AufenthG a.F. ist. Denn die Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG stellt eine selbständige ausländerrechtliche Maßnahme der Gefahrenabwehr dar, die auf die Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr zielt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.5.2017 - 1 VR 4/17, juris Rz. 14).
Rz. 19
(2) Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich nichts anderes. Der durch das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20.7.2017 (BGBl. I 2780) eingefügte § 62 Abs. 4 Satz 3 AufenthG a.F. geht auf einen Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD im Innenausschuss des Deutschen Bundestages zurück, mit dem der unionsrechtliche Rahmen einer möglichen Haftverlängerung ausgeschöpft werden sollte (vgl. Ausschussdrucksache 18(4)897, S. 2 u. 9; s.a. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses vom 17.5.2017, BT-Drucks. 18/12415, 5 u. 14). Dass dabei mit "Unterlagen" nur Pässe oder Passersatzpapiere gemeint sein sollen, ergibt sich hieraus nicht.
Rz. 20
4. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV im Hinblick auf den Begriff der "erforderlichen Unterlagen" in Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115/EG (vom 16.12.2008, ABl. EG Nr. L 348, 98 - im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) ist nicht angezeigt. Denn einer Vorlage bedarf es nicht, sofern die richtige Auslegung und die Reichweite des Unionsrechts derart offenkundig sind, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt (EuGH, Urt. v. 6.10.1982 - 283/81, NJW 1983, 1257, 1258 - CILFIT). Dies ist hier hinsichtlich des Begriffs der "erforderlichen Unterlagen" aufgrund des Wortlauts, der Regelungssystematik und des Regelungszwecks von Art. 15 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie der Fall, an dessen Vorgaben sich § 62 Abs. 4 Satz 3 AufenthG a.F. hält. Dass dazu auch Erklärungen des Zielstaats gehören, mit denen er eine den Vorgaben insb. der Art. 1 und 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entsprechende Behandlung des Betroffenen zusichert, erscheint nicht zweifelhaft.
Rz. 21
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG, die Festsetzung des Gegenstandswertes auf § 36 Abs. 3 GNotKG.
Fundstellen
Haufe-Index 13934179 |
NVwZ 2020, 9 |
JZ 2020, 539 |