Leitsatz (amtlich)
Ein Rechtsanwalt hat durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren.
Normenkette
ZPO § 85 Abs. 2, § 233 S. 1
Verfahrensgang
OLG München (Entscheidung vom 14.02.2022; Aktenzeichen 1 U 7600/21) |
LG München I (Entscheidung vom 22.09.2021; Aktenzeichen 9 O 8858/19) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Klägers gegen den Beschluss des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 14. Februar 2022 wird als unzulässig verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens.
Gegenstandswert: bis 140.000 €
Gründe
I.
Rz. 1
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Gegen das ihm am 25. September 2021 zugestellte Urteil legte der Kläger fristgerecht Berufung ein. Mit Schriftsatz vom 6. Dezember 2021 begründete der Kläger die Berufung und beantragte zugleich die Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist.
Rz. 2
Zur Begründung hat der Kläger vorgetragen, die erfahrene und zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte seiner Rechtsanwältin habe es aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen versäumt, das Ende der Berufungsbegründungsfrist im Fristenbuch einzutragen. Die Angestellte habe die Frist richtig auf den 25. November 2021 berechnet, aber lediglich auf einem gelben Notizzettel in der Handakte eingetragen, bevor sie die Erledigung der Fristenkontrolle vermerkt habe. Seine Rechtsanwältin habe bei Einlegung der Berufung anhand der Handakte kontrolliert, dass die Berufungsbegründungsfrist richtig berechnet worden sei. Mangels Eintrags im Fristenbuch sei ihr die Akte dann aber nicht zum Ende der Berufungsbegründungsfrist wieder vorgelegt worden; der Fehler sei erst am 4. Dezember 2021 bemerkt worden. Zur Glaubhaftmachung hat der Kläger eine anwaltliche Versicherung seiner Rechtsanwältin und eine eidesstattliche Versicherung von deren Angestellter vorgelegt.
Rz. 3
Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.
II.
Rz. 4
Die statthafte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO) Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist unzulässig. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Der angefochtene Beschluss verletzt den Kläger nicht in seinem Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) und seinen sonstigen Verfahrensgrundrechten.
Rz. 5
1. Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist der Wiedereinsetzungsantrag unbegründet, weil der Kläger schon nicht vorgetragen habe, dass in der Kanzlei seiner Rechtsanwältin die grundsätzliche Weisung bestanden habe, Vorfristen auszurechnen und zumindest in den Fristenkalender einzutragen. Dieses Organisationsverschulden sei kausal für das Versäumen der Berufungsbegründungsfrist gewesen, weil die Kanzleiangestellte die Berufungsbegründungsfrist grundsätzlich zutreffend berechnet habe, so dass davon auszugehen sei, dass bei einer entsprechenden Weisung die Vorfrist von mindestens einer Woche vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender eingetragen worden wäre.
Rz. 6
2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung stand. Die Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ist nicht zu beanstanden. In dem Unterlassen der Weisung, eine Vorfrist zu notieren, liegt ein dem Kläger nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Organisationsverschulden seiner Prozessbevollmächtigten.
Rz. 7
a) Ein Rechtsanwalt darf zwar die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen. Er hat aber durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Vorfrist dient dazu sicherzustellen, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist (BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XI ZB 17/19, juris Rn. 9 mwN).
Rz. 8
b) Diese Vorgaben hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers bei der Organisation ihrer Kanzlei nicht eingehalten. Eine Vorfrist war nicht notiert. Der Kläger hat nicht vorgetragen, dass dies versehentlich - entgegen einer anderslautenden Anordnung - unterblieben sei.
Rz. 9
c) Der Organisationsmangel der Prozessbevollmächtigten des Klägers war für die Fristversäumnis auch ursächlich.
Rz. 10
aa) Wiedereinsetzung kann nicht gewährt werden, wenn die Ursächlichkeit des Organisationsmangels für das Versäumen der Frist nicht ausgeräumt ist. Hat ein Rechtsanwalt nicht alle ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Wahrung einer Berufungsbegründungsfrist ergriffen, geht es zu seinen Lasten, wenn nicht festgestellt werden kann, dass die Frist auch bei Durchführung dieser Maßnahmen versäumt worden wäre (BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XI ZB 17/19, juris Rn. 12 mwN).
Rz. 11
bb) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist nicht davon auszugehen, dass die Kanzleiangestellte der Prozessbevollmächtigten des Klägers, nur weil sie den Eintrag der Berufungsbegründungsfrist in das Fristenbuch versäumt hat, auch den Eintrag der Vorfrist in das Fristenbuch versäumt hätte. Es ist vielmehr zumindest möglich, dass die zusätzliche Fristensicherung der Vorfrist gegriffen und die Kanzleiangestellte nicht denselben Fehler zwei Mal gemacht und im Ergebnis zumindest die Vorfrist im Fristenkalender eingetragen hätte.
Rz. 12
Die Kanzleiangestellte hatte die Berufungsbegründungsfrist grundsätzlich zutreffend berechnet und auch in der Handakte vermerkt (vgl. aber zum Fall der unzutreffenden Berechnung bzw. Übertragung der Berufungsbegründungsfrist Senatsbeschluss vom 29. Oktober 2019 - VI ZB 31/19, MDR 2020, 115 Rn. 8; BGH, Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 227/17, NJW-RR 2018, 1451 Rn. 10). Bei auf die Vorfrist bezogen unterstellt ordnungsgemäßem Vorgehen der Kanzleiangestellten wären die Akten der Prozessbevollmächtigten des Klägers folglich rechtzeitig vorgelegt worden. In diesem Fall hätte die Prozessbevollmächtigte des Klägers rechtzeitig bemerkt, dass eine Berufungsbegründung noch nicht erstellt war. Ein Rechtsanwalt hat eine ihm aufgrund einer Vorfrist vorgelegte und damit in seinen persönlichen Verantwortungsbereich (zurück-)gelangte Fristsache rechtzeitig zu bearbeiten und für die Weiterleitung der bearbeiteten Sache in der Weise Sorge zu tragen, dass der entsprechende Schriftsatz fristgerecht bei Gericht eingeht. Dieser Pflicht wird er nicht durch eine weitere, auf den Tag des Fristablaufs notierte Frist enthoben. Hätte mithin die Prozessbevollmächtigte des Klägers nach Vorlage der Akten zur Vorfrist die Berufungsbegründung fristgerecht fertiggestellt und einem Büroangestellten mit der Weisung übergeben, sie bei Gericht einzureichen, wäre die Berufungsbegründungsfrist gewahrt worden (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XI ZB 17/19, juris Rn. 14 mwN).
Rz. 13
3. War dem Antrag auf Wiedereinsetzung nicht stattzugeben, hat das Berufungsgericht die Berufung des Klägers wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu Recht als unzulässig verworfen (§ 520 Abs. 2 und 3 ZPO).
Seiters |
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von Pentz |
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Oehler |
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Klein |
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Böhm |
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Fundstellen
Haufe-Index 15391139 |
NJW 2022, 8 |
NJW-RR 2022, 1717 |
FA 2022, 335 |
FA 2022, 350 |
IBR 2022, 657 |
ZAP 2022, 1098 |
AnwBl 2023, 47 |
VersR 2023, 340 |
ErbR 2023, 84 |
RENOpraxis 2022, 294 |
VRR 2022, 3 |
Mitt. 2023, 43 |