Verfahrensgang
LG Stuttgart (Entscheidung vom 23.12.2021; Aktenzeichen 4 S 210/21) |
AG Stuttgart (Entscheidung vom 16.09.2021; Aktenzeichen 5 C 2236/21) |
Tenor
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 23. Dezember 2021 gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der vorgenannte Beschluss im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 800 €.
Gründe
I.
Rz. 1
Mit Urteil vom 19. September 2021, dem Kläger zugestellt am 22. September 2021, hat das Amtsgericht die Klage auf Zahlung von 800 € abgewiesen. Gegen diese Entscheidung hat der Kläger persönlich mit Schreiben vom 29. September 2021, beim Landgericht eingegangen am 1. Oktober 2021, Berufung eingelegt und zugleich die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Mit Beschluss vom 23. Dezember 2021 hat das Landgericht die Berufung gemäß § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig verworfen, weil der Kläger die Berufung nicht durch einen Rechtsanwalt eingelegt habe, und den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt, weil die Berufung gegen das Urteil mangels Zulässigkeit des Rechtsmittels keine Aussicht auf Erfolg habe.
Rz. 2
Gegen die Verwerfung der Berufung als unzulässig wendet sich der Kläger mit seiner Rechtsbeschwerde. Der Senat hat am 24. März 2022 Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren und mit Beschluss vom 13. April 2022 Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsbeschwerdefrist bewilligt. Für die Begründung der Rechtsbeschwerde beantragt der Kläger nunmehr ebenfalls Wiedereinsetzung in die versäumte Frist.
II.
Rz. 3
Dem Kläger war gemäß § 233 Satz 1 ZPO antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde zu bewilligen.
III.
Rz. 4
1. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat durch seine Vorgehensweise das Grundrecht des Klägers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Dieses verbietet es den Gerichten, Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Juli 2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221, 227; vom 16. November 2010 - VIII ZB 55/10, NJW 2011, 230 Rn. 10; vom 4. November 2015 - XII ZB 289/15, FamRZ 2016, 209 Rn. 4; vom 14. März 2017 - VI ZB 36/16, NJW-RR 2017, 895 Rn. 4; vom 21. August 2018 - VIII ZB 22/18, NJW-RR 2018, 1271 Rn. 5).
Rz. 5
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht durfte die Berufung nicht mit der Begründung als unzulässig verwerfen, dass sie nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 1 Satz 1 ZPO entsprechend durch einen Rechtsanwalt eingelegt (und begründet) worden ist. Denn der Kläger hat innerhalb der Berufungsfrist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt.
Rz. 6
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Rechtsmittelführer, der innerhalb der Rechtsmittelfrist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt hat, bis zur Entscheidung über seinen Antrag als unverschuldet verhindert anzusehen, das Rechtsmittel wirksam einzulegen, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste (vgl. nur BGH, Beschluss vom 4. November 2015, aaO Rn. 6; vom 14. März 2017, aaO Rn. 6; vom 21. August 2018, aaO Rn. 7). Dies gilt auch dann, wenn neben dem Prozesskostenhilfegesuch eine unzulässige Berufung eingelegt worden ist. Da die Prozesskostenhilfe beantragende Partei wegen ihrer Hilfebedürftigkeit gehindert ist, einen Rechtsanwalt mit ihrer Vertretung im Berufungsverfahren zu beauftragen, ist ihr, wenn sie nach den gegebenen Umständen nicht mit der Ablehnung ihres Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste, nach Entscheidung über die Prozesskostenhilfe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (BGH, Beschluss vom 4. November 2015 - XII ZB 289/15, FamRZ 2016, 209 Rn. 6; vom 14. März 2017, aaO Rn. 6). Das Berufungsgericht hat folglich vorab über das Prozesskostenhilfegesuch einschließlich der Frage der Beiordnung eines Rechtsanwalts zu entscheiden, um so der Partei Gelegenheit zu geben, anschließend einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen, falls sie beabsichtigt, das Berufungsverfahren - im Falle der Versagung von Prozesskostenhilfe gegebenenfalls auf eigene Kosten - durchzuführen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. März 2017, aaO).
Rz. 7
b) Vorliegend hat der Kläger seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beifügung der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gemäß § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO sowie der Belege hierzu innerhalb der Berufungsfrist gestellt. Das Berufungsgericht hat Prozesskostenhilfe allein im Hinblick auf die fehlende Vertretung des Klägers durch einen Rechtsanwalt bei der Berufungseinlegung versagt. Es durfte allerdings das Prozesskostenhilfegesuch weder mit dieser - zirkelschlüssigen - Begründung ablehnen, noch die Berufung verwerfen, ohne zunächst seine Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch bekanntzugeben. Der Beklagte hätte dann die Möglichkeit gehabt, auf eigene Kosten einen Rechtsanwalt zu beauftragen und diesen Berufung, verbunden mit einem Wiedereinsetzungsantrag, einlegen zu lassen. Die gegenteilige Verfahrensweise des Berufungsgerichts hat dem Kläger diesen Weg von vornherein versperrt und verletzt ihn daher in seinem Verfahrensgrundrecht auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip).
Rz. 8
3. Die angefochtene Entscheidung kann demnach, soweit die Berufung als unzulässig verworfen worden ist, keinen Bestand haben; sie ist insoweit aufzuheben und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Das Berufungsgericht wird zunächst neu über das Prozesskostenhilfegesuch des Klägers zu befinden haben.
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Fundstellen
Haufe-Index 15627296 |
r+s 2023, 692 |