Verfahrensgang

LG Paderborn (Entscheidung vom 18.08.2020; Aktenzeichen 5 T 173/20)

AG Paderborn (Entscheidung vom 31.07.2020; Aktenzeichen 11 XIV (B) 109/20)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Paderborn vom 31. Juli 2020 und der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn vom 18. August 2020 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Landeshauptstadt Potsdam auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

 

Gründe

Rz. 1

I. Der Betroffene, ein russischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2002 unerlaubt in das Bundesgebiet ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte mit - zwischenzeitlich - bestandskräftigem Bescheid vom 25. Februar 2003 seinen unter Angabe falscher Personalien gestellten Asylantrag als offensichtlich unbegründet ab und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung auf, das Bundesgebiet zu verlassen. Mit Bescheid vom 14. Oktober 2015 erließ die Ausländerbehörde Potsdam - unter anderem wegen Unterstützung terroristischer Organisationen - gegen den Betroffenen eine Ausweisungsverfügung. Dagegen erhob der Betroffene, nachdem er am 15. Oktober 2015 festgenommen worden war und anschließend eine Haftstrafe verbüßte, am 21. Januar 2019 Klage. Einen weiteren Asylantrag lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 22. Januar 2020 wiederum als offensichtlich unbegründet ab, wobei ihm abermals die Abschiebung angedroht wurde, falls er das Bundesgebiet nicht innerhalb von 30 Tagen verlassen haben sollte. Dagegen legte der Betroffene Klage zum Verwaltungsgericht Berlin ein, das seinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung mit Beschluss vom 4. März 2020 zurückwies. Ausweislich der Abschlussmitteilung des Bundesamts vom 19. März 2020 war die Abschiebungsandrohung seit dem 19. März 2020 vollziehbar.

Rz. 2

Im Hinblick auf die am 27. Juli 2020 endende Strafhaft beantragte die beteiligte Behörde am 21. Juli 2020 beim Amtsgericht Tiergarten die Anordnung von Abschiebungshaft bis zum 28. August 2020, hilfsweise den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Das Amtsgericht Tiergarten ordnete nach Ergänzung und Abänderung des Antrags durch die beteiligte Behörde am 22. Juli 2020 mit Beschluss vom 24. Juli 2020 im Wege der einstweiligen Anordnung Haft bis zum 31. Juli 2020 an. Nachdem der Betroffene mit Ablauf der Strafhaft in die Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige nach Büren verbracht worden war und das Amtsgericht Tiergarten das Verfahren an das Amtsgericht Paderborn abgegeben hatte, hat das Amtsgericht Paderborn nach Anhörung des Betroffenen mit Beschluss vom 31. Juli 2020 Haft bis zum 24. August 2020 angeordnet. Die dagegen vom Betroffenen eingelegte Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene nach Ablauf der angeordneten Haft die Feststellung, dass ihn die Haftanordnung in seinen Rechten verletzt hat.

Rz. 3

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

Rz. 4

1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, der Betroffene sei aufgrund des den Asylantrag ablehnenden Bescheids des Bundesamts vom 22. Januar 2020 und der damit verbundenen Abschiebungsandrohung vollziehbar ausreisepflichtig. Den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung habe das Verwaltungsgericht Berlin mit Beschluss vom 4. März 2020 zurückgewiesen. Zwar habe das mit einem Antrag auf Untersagung der Abschiebung befasste Verwaltungsgericht Potsdam die Behörden aufgefordert, vor der geplanten Abschiebung des Betroffenen am 24. August 2020 im Hinblick auf seine bis dahin zu erwartende Entscheidung keine Vollstreckungsmaßnahmen zu ergreifen. Das Verwaltungsgericht habe aber keine Anhaltspunkte mitgeteilt, die darauf schließen ließen, dass mit einer Stattgabe des Antrags zu rechnen sei. Das Amtsgericht habe auch nicht gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen.

Rz. 5

2. Diese Erwägungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Es fehlte bereits an einer Ausreisepflicht des Betroffenen, weil die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes vom 22. Januar 2020 - auf den die beteiligte Behörde den Haftantrag gestützt hat - nicht sofort vollziehbar war (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2022 - XIII ZB 64/20, z. Veröff. best. Rn. 7).

Rz. 6

aa) Zwar hatte das Bundesamt den Betroffenen mit Bescheid vom 22. Januar 2022 aufgefordert, binnen 30 Tagen nach Zustellung das Bundesgebiet zu verlassen. Es hatte jedoch ebenso verfügt, dass im Falle der Klageerhebung die Ausreisefrist 30 Tage nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens enden sollte. Die sofortige Vollziehbarkeit hatte das Bundesamt - anders als die im Bescheid enthaltene Rechtsmittelbelehrung vermuten ließ - damit nicht angeordnet. Der Antrag des Betroffenen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung sowie der diesen Antrag zurückweisende Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 4. März 2020 waren - wie das Verwaltungsgericht Berlin im Beschluss vom 20. August 2020 auch später festgestellt hat - gegenstandslos. Die Angabe der beteiligten Behörden im Haftantrag unter Bezugnahme auf die fehlerhafte Abschlussmitteilung des Bundesamts, wonach die Abschiebungsandrohung seit dem 19. März 2020 vollziehbar sei, war daher unzutreffend.

Rz. 7

bb) Das Beschwerdegericht durfte sich nicht auf den Inhalt der fehlerhaften Abschlussmitteilung des Bundesamts und des unzutreffenden Beschlusses des Verwaltungsgerichts Berlin verlassen. Anders als die beteiligte Behörde meint, gehört das Vorliegen der Abschiebungsandrohung grundsätzlich zu den vom Haftrichter zu prüfenden Vollstreckungsvoraussetzungen (BGH, Beschluss vom 7. Februar 2019 - V ZB 216/17, InfAuslR 2019, 228 Rn. 11). Fehlt es an einer für die Vollstreckung erforderlichen Voraussetzung, darf eine Ausreisepflicht nicht durch Abschiebung durchgesetzt und Haft zur Sicherung der Abschiebung nicht angeordnet werden (BGH, Beschlüsse vom 28. April 2011 - V ZB 252/10, juris Rn. 16; vom 27. September 2012 - V ZB 31/12, InfAuslR 2013, 38 Rn. 6; vom 21. August 2019 - V ZB 60/17, juris Rn. 8). Dem steht nicht entgegen, dass die Haftgerichte nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die materielle Rechtmäßigkeit einer vollziehbaren Abschiebungsandrohung nicht zu prüfen haben, weil sie damit in unzulässiger Weise in den Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit übergreifen würden (st. Rspr., vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. September 1980 - VII ZB 5/80, BGHZ 78, 145, 147; vom 11. Oktober 2017 - V ZB 41/17, FGPrax 2018, 41 Rn. 22; vom 21. August 2019 - V ZB 174/17, juris Rn. 8; vom 7. April 2020 - XIII ZB 53/19, InfAuslR 2020, 283 Rn. 12). Diese Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche enthebt die Haftgerichte nicht der Prüfung, ob nach dem äußeren Tatbestand die Voraussetzungen für die Vollstreckung der Ausreisepflicht gegeben sind (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 20/19, InfAuslR 2020, 446 Rn. 8). Angesichts dessen hätten sowohl das Amts- als auch das Landgericht die Abschlussmitteilung sowie den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 4. März 2020 im Lichte des ihnen vorliegenden Bescheids des Bundesamts vom 22. Januar 2020 würdigen und zu dem Ergebnis kommen müssen, dass vorliegend die Abschiebungsandrohung nicht sofort vollziehbar und die Ausreisepflicht des Betroffenen angesichts der erfolgten Klageerhebung noch nicht abgelaufen war.

Rz. 8

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

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Fundstellen

Dokument-Index HI15507852

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