Verfahrensgang
LG Ingolstadt (Entscheidung vom 07.03.2022; Aktenzeichen 24 T 1544/21) |
AG Ingolstadt (Entscheidung vom 07.06.2021; Aktenzeichen 1 XIV 156/21) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Ingolstadt - 2. Zivilkammer - vom 7. März 2022 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Ingolstadt vom 7. Juni 2021 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene, ein syrischer Staatsbürger, wurde im März 2021 auf der Ladefläche eines rumänischen Lastkraftwagens in Bayern aufgegriffen. Er besaß keinen Reisepass und verfügte über keinen Aufenthaltstitel für Deutschland. Verschiedene Amtsgerichte ordneten gegen ihn Haft zur Sicherung seiner Überstellung nach Rumänien an, zuletzt bis zum 9. Juni 2021.
Rz. 2
Auf Antrag der beteiligten Behörde vom 4. Juni 2021 hat das Amtsgericht nach Anhörung des - zuvor positiv auf das Coronavirus getesteten - Betroffenen im Wege der Videovernehmung mit Beschluss vom 7. Juni 2021 die Verlängerung der Überstellungshaft antragsgemäß bis zum 25. Juni 2021 angeordnet. Die hiergegen gerichtete, nach Überstellung des Betroffenen nach Rumänien am 22. Juni 2021 auf Feststellung gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Beschwerdegericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene den Feststellungsantrag weiter.
Rz. 3
II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Rz. 4
1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Verlängerung der Überstellungshaft sei rechtmäßig und beruhe auf einem zulässigen Haftantrag. Die Haftanordnung habe den Betroffenen nicht deshalb in seinen Rechten verletzt, weil er im Rahmen einer Videovernehmung persönlich angehört worden sei.
Rz. 5
2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Amtsgericht durfte auf Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht auf eine persönliche Anhörung des Betroffenen vor der Beschlussfassung verzichten. Dieser Verfahrensfehler führt zur Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung.
Rz. 6
a) Nach § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Anordnung der Sicherungshaft persönlich anzuhören. Die persönliche Anhörung gehört zu den von Art. 104 Abs. 1 GG geforderten Verfahrensgarantien und dient nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern ist zugleich Kernstück der Amtsermittlung im Freiheitsentziehungsverfahren. Ein Verstoß gegen die Anhörungspflicht drückt der gleichwohl angeordneten Sicherungshaft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf. Da dieser Fehler nicht heilbar ist, kommt es weder darauf an, ob die Anhörung bei der Überprüfung der Haftanordnung nachgeholt wurde, noch darauf, ob die Freiheitsentziehung in der Sache zu Recht angeordnet worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2023 - XIII ZB 46/22, juris Rn. 7 mwN).
Rz. 7
b) Diesen Anforderungen hat das Amtsgericht nicht entsprochen. Eine Anhörung per Videokonferenz stellt, wie der Senat zwischenzeitlich entschieden hat, keine persönliche Anhörung im Sinne des § 420 Abs. 1 FamFG dar, da sie nicht in gleichem Maße geeignet ist, einen persönlichen Eindruck zu vermitteln (BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2023 - XIII ZB 46/22, juris Rn. 9 mwN).
Rz. 8
c) Die persönliche Anhörung war auch nicht aufgrund der Corona-Infektion des Betroffenen verzichtbar.
Rz. 9
aa) Zwar kann nach § 420 Abs. 2 FamFG eine persönliche Anhörung unterbleiben, wenn der Betroffene an einer übertragbaren Krankheit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes leidet, was das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden und zu begründen hat. Im Hinblick auf den schwerwiegenden Grundrechtseingriff einer Freiheitsentziehung ist diese Norm jedoch einschränkend auszulegen. Daher stellt eine ansteckende Krankheit des Betroffenen keinen ausreichenden Grund für ein Absehen von seiner persönlichen Anhörung dar, wenn ausreichende Möglichkeiten zum Schutz der Gesundheit der anhörenden Richter bestehen, der Betroffene in der Lage ist, sich einer Anhörung zu stellen und keine Nachteile für seine Gesundheit zu befürchten sind. Das Gericht muss konkret darlegen, warum eine entsprechende Gestaltung der Anhörungssituation nicht möglich ist (BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2023 - XIII ZB 46/22, juris Rn. 11 mwN).
Rz. 10
bb) Das Amtsgericht hat die Anordnung, den Betroffenen per Videokonferenz zuzuschalten, in dem vor der Anhörung erlassenen Beschluss vom 7. Juni 2021 allein damit begründet, dass dieser nach Angaben der Abschiebehaftanstalt positiv auf Covid getestet worden sei. Dass eine persönliche Anhörung des Betroffenen unter Ergreifung zumutbarer Möglichkeiten zum Schutz der Gesundheit des anhörenden Richters und gegebenenfalls weiterer Beteiligter zumindest in Erwägung gezogen wurde, lässt sich weder der Begründung des Anordnungsbeschlusses entnehmen, noch finden sich dafür Anhaltspunkte in der Akte. Auch das Beschwerdegericht hat keine entsprechenden Feststellungen getroffen. Damit hat der Amtsrichter die rechtlichen Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens überschritten.
Rz. 11
d) Selbst wenn man von einem verbleibenden, nicht unerheblichen Ansteckungsrisiko für die Gerichtspersonen, die Begleitpersonen und weitere Verfahrensbeteiligte ausgeht, durfte die Sicherungshaft vorliegend nicht ohne vorherige persönliche Anhörung ergehen. Gegebenenfalls hätte das Amtsgericht unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haftverlängerung nach § 427 FamFG einen neuen Anhörungstermin für die Zeit nach dem Ende der Infektion bestimmen müssen (BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2023 - XIII ZB 46/22, juris Rn. 14 mwN).
Rz. 12
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
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Fundstellen
Dokument-Index HI16281573 |