Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungsverfahren. Unangegriffener Gerichtsstand erster Instanz. Nachprüfungsverbot
Leitsatz (amtlich)
Im Berufungsverfahren ist regelmäßig der im Verfahren vor dem AG unangegriffen gebliebene inländische bzw. ausländische Gerichtsstand einer Partei zu Grunde zu legen und einer Nachprüfung durch das Rechtsmittelgericht grundsätzlich entzogen.
Normenkette
GVG § 119 Abs. 1 Nr. 1b
Verfahrensgang
LG Kiel (Beschluss vom 13.05.2003) |
AG Rendsburg |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Beklagten gegen den Beschluss der 8. Zivilkammer des LG Kiel v. 13.5.2003 wird zurückgewiesen.
Die Beklagten haben die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen.
Beschwerdewert: 16.412 EUR.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Feststellung, dass der zwischen ihm und den Beklagten geschlossene Mietvertrag v. 15./17.9.1995 nicht durch die Kündigungen der Beklagten zum 30.9.2002 beendet ist, sondern über diesen Zeitpunkt hinaus zu unveränderten Bedingungen fortbesteht. Das am 31.10.2002 verkündete Urteil des AG Rendsburg, durch das der Klage stattgegeben worden ist, ist den Beklagten am 5.11.2002 zugestellt worden. Hiergegen haben die Beklagten am 28.11.2002 beim LG Kiel Berufung eingelegt und diese am 3.1.2003 begründet. Mit Verfügung v. 3.1.2003 sind die Beklagten vom LG vorsorglich darauf hingewiesen worden, dass die beim LG Kiel eingelegte Berufung unzulässig sei, sofern der Kläger bereits bei Klageerhebung seinen Wohnsitz im Ausland gehabt habe (§ 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG), was derzeit mangels vorliegender Akten noch nicht überprüft werden könne. Demgegenüber haben die Beklagten geltend gemacht, dass der Kläger im Zeitpunkt der Klagezustellung am 16.8.2002 seinen allgemeinen Gerichtsstand noch in Deutschland gehabt habe; ein Wille, seinen früheren Wohnsitz in Deutschland aufzugeben, sei bis zu diesem Zeitpunkt nicht erkennbar gewesen.
Nach entsprechendem Hinweis hat das LG durch Beschluss v. 13.5.2003 die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Zur Begründung ist ausgeführt, nach § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG sei das LG für Streitigkeiten, in denen eine Partei ihren allgemeinen Gerichtsstand zum Zeitpunkt der Klageerhebung im Ausland habe, nicht zuständig. Die Berufung hätte danach nur bei dem OLG wirksam eingelegt werden können, was nicht geschehen sei. Die Beklagten hätten die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Berufung und damit auch die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts zu beweisen; dieser Beweisverpflichtung seien sie nicht nachgekommen. Da der Kläger selbst angegeben habe, in Frankreich wohnhaft zu sein, hätten die Beklagten nachweisen müssen, dass er statt dessen - oder aber zusätzlich - bei Klageerhebung einen Wohnsitz in der Bundesrepublik innegehabt habe. Die Beklagten hätten nicht einmal substanziiert darlegen können, dass der Kläger unter der angegebenen Adresse in der Gemeinde G. überhaupt jemals gelebt habe. Für einen Schwerpunkt der Lebensverhältnisse des Klägers in G. lägen nur gewisse, jedoch nicht ausreichende Indizien vor.
Mit ihrer Rechtsbeschwerde erstreben die Beklagten die Zurückverweisung der Sache an das LG Kiel, hilfsweise an das OLG Schleswig.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. §§ 522 Abs. 1 S. 4, 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist auch nach § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO wegen grundsätzlicher Bedeutung für die Klärung der Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG, der durch Art. 1 des ZPO-Reformgesetzes v. 27.7.2001 (BGBl. I, 1887) neu gefasst worden ist, zulässig. Die Rechtsbeschwerde ist im Übrigen nach § 575 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Auf die Wertgrenze des § 26 Nr. 8 EGZPO kommt es nicht an (vgl. BGH, Beschl. v. 4.9.2002 - VIII ZB 23/02, BGHReport 2002, 1113 = MDR 2002, 1446 = NJW 2002, 3783, unter II 1b).
2. Die Rechtsbeschwerde ist jedoch nicht begründet und daher zurückzuweisen.
a) Nach § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG sind mit Wirkung v. 1.1.2002 die Oberlandesgerichte zuständig für die Verhandlung und Entscheidung über die Rechtsmittel der Berufung und Beschwerde gegen Entscheidungen der Amtsgerichte in Streitigkeiten über Ansprüche, die von einer oder gegen eine Person erhoben werden, die ihren allgemeinen Gerichtsstand im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit in erster Instanz außerhalb des Geltungsbereichs des Gerichtsverfassungsgesetzes hatte. Durch diese Sonderzuweisung soll nach der Begründung des Gesetzesentwurfs in der Fassung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses dem Umstand Rechnung getragen werden, "dass durch die Internationalisierung des Rechts und den zunehmenden grenzüberschreitenden Rechtsverkehr ein großes Bedürfnis nach Rechtssicherheit durch eine obergerichtliche Rechtsprechung besteht". Dabei wurde an den allgemeinen Gerichtsstand einer Partei im Ausland angeknüpft, weil "das Gericht in diesen Fällen regelmäßig die Bestimmungen des Internationalen Privatrechts anzuwenden hat, um zu entscheiden, welches materielle Recht es seiner Entscheidung zu Grunde legt"; dabei gewährleiste das Gerichtsstandskriterium im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit "eine hinreichende Bestimmtheit und damit Rechtssicherheit für die Abgrenzung der Berufungszuständigkeit zwischen LG und OLG" (BT-Drucks. 14/6036, 118 f.). Auf Grund dieser rein formalen Anknüpfung der Rechtsmittelzuständigkeit des OLG kommt es daher nicht darauf an, ob sich - wie auch im vorliegenden Fall - im Einzelfall keine besonderen Fragen des internationalen Privatrechts stellen (BGH, Beschl. v. 19.2.2003 - IV ZB 31/02, MDR 2003, 707 = BGHReport 2003, 635 = NJW 2003, 1672, unter II 3b; Beschl. v. 15.7.2003 - VIII ZB 30/03, BGHReport 2003, 1234 = MDR 2003, 1367 = NJW 2003, 3278, unter II 2a; s. auch Zöller/Gummer, ZPO, 24. Aufl., § 119 GVG Rz. 15; Wolf in MünchKomm/ZPO, Aktualisierungsband, § 119 GVG Rz. 4).
b) Die gegen diese Regelung erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken der Beklagten greifen nicht durch. Durch die Anknüpfung der Rechtsmittelzuständigkeit des OLG an den allgemeinen Gerichtsstand einer Partei im Ausland im Zeitpunkt der Klageerhebung (Zöller/Gummer, ZPO, 24. Aufl., § 119 GVG Rz. 14; Heidemann, NJW 2002, 494 f.) ist bereits bei Verfahrensbeginn vor dem AG bestimmbar, wo Rechtsmittel eingelegt werden müssen, was der Rechtssicherheit und der Verfahrensvereinfachung dient (vgl. Schwartze in Hannich/Meyer-Seitz, ZPO-Reform 2002 mit Zustellungsreformgesetz, § 119 GVG Rz. 8; Wolf in MünchKomm/ZPO, Aktualisierungsband, § 119 GVG Rz. 4). In Anbetracht dieser klaren Zuständigkeitsregelung kommt auch entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde eine Abgabe des Verfahrens durch das angerufene Gericht an das funktionell zuständige Gericht entsprechend den für das Kartellverfahren geltenden Sonderregeln (BGH v. 30.5.1978 - KZR 12/77, BGHZ 71, 367 ff.) nicht in Betracht (BGH, Beschl. v. 19.2.2003 - IV ZB 31/02, MDR 2003, 707 = BGHReport 2003, 635 = NJW 2003, 1672).
c) Auch soweit die Beklagten sich mit ihrer Rechtsbeschwerde dagegen wenden, dass das LG einen Wohnsitz des Klägers bei Klageerhebung in Deutschland nicht festgestellt hat, können sie damit keinen Erfolg haben.
aa) Wie die Rechtsbeschwerde im Grundsatz nicht in Abrede stellt, obliegt den Beklagten als Berufungsklägern der Nachweis für das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen, zu denen auch die funktionelle Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gehört (Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 15. Aufl., § 96 II 1d, V 2; Lüke in MünchKomm/ZPO, 2. Aufl., Vor § 253 Rz. 6, 14). Zu Unrecht machen die Beklagten geltend, in Anbetracht der regelmäßigen Zuständigkeit des LG für Berufungen gegen Urteile des AG, der gegenüber die Zuständigkeit des OLG nur ausnahmsweise gegeben sei, sei von einer funktionalen Zuständigkeit des LG auszugehen, solange die Voraussetzungen für die Zuständigkeit des OLG nicht positiv festgestellt seien. Dem kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil § 72 GVG selbst die Zuständigkeit des LG unter den Vorbehalt einer Zuständigkeit des OLG stellt.
bb) Die Rüge der Beklagten, das LG hätte zur Feststellung des von ihnen behaupteten inländischen Wohnsitzes des Klägers eine weitere Beweisaufnahme durchführen müssen, ist nicht begründet.
Durch die Bestimmung, dass für Berufung und Beschwerden gegen amtsgerichtliche Entscheidungen in Streitigkeiten über Ansprüche, die von einer oder gegen eine Partei mit allgemeinem Gerichtsstand im Zeitpunkt der Klageerhebung außerhalb des Geltungsbereichs des Gerichtsverfassungsgesetzes erhoben werden, das OLG zuständig ist, soll bereits bei Verfahrensbeginn für die Parteien erkennbar sein, bei welchem Gericht ggf. ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des AG einzulegen ist. Dies entspricht dem aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit abgeleiteten Gebot der Rechtsmittelklarheit, dem Rechtsuchenden den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen klar vorzuzeichnen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02, MDR 2003, 886 = NJW 2003, 1924 [1928], m. w. N.; s.a. BGH v. 30.5.1978 - KZR 12/77, BGHZ 71, 367 [371 f.]). Diesem Gebot widerspräche es, wenn der in erster Instanz unbestritten gebliebene ausländische Wohnsitz einer Partei in der Rechtsmittelinstanz uneingeschränkt wieder infrage gestellt werden könnte mit der Folge, dass bei Durchgreifen dieses Einwands das Rechtsmittel bei dem unzuständigen Gericht eingelegt und eine Berufung daher als unzulässig verworfen werden müsste, wenn - was regelmäßig der Fall sein dürfte - zu diesem Zeitpunkt die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem zuständigen Gericht verstrichen ist. Das Gleiche gilt für den Fall, dass in der Rechtsmittelinstanz erstmals der ausländische Gerichtsstand einer Partei behauptet wird. Der im ersten Rechtszug unterlegenen Partei kann auch regelmäßig nicht zugemutet werden, sofern ein ausländischer Gerichtsstand einer Partei im Zeitpunkt der Klageerhebung nicht ausgeschlossen werden kann, vorsorglich parallel sein Rechtsmittel sowohl beim LG sowie beim OLG einzulegen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02, MDR 2003, 886 = NJW 2003, 1924 [1928], m. w. N.).
Neben dem Grundsatz der Rechtssicherheit, die eine klare Zuständigkeitsregelung auch für Rechtsmittelverfahren mit Auslandsberührung erfordert, gebietet ferner das Rechtsstaatsprinzip, den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BVerfG v. 11.2.1987 - 1 BvR 475/85, BVerfGE 74, 228 [234] = MDR 1987, 728 = CR 1987, 374; v. 11.2.1987 - 1 BvR 475/85, BVerfGE 88, 118 [123 ff.] = MDR 1987, 728 = CR 1987, 374; s.a. BGH, Beschl. v. 4.9.2002 - VIII ZB 23/02, BGHReport 2002, 1113 = MDR 2002, 1446 = NJW 2002, 3783, unter II 1b). Diesem Gebot kann nur dadurch wirksam Rechnung getragen werden, dass im Rechtsmittelverfahren regelmäßig der im Verfahren vor dem AG unangegriffen gebliebene inländische bzw. ausländische Gerichtsstand einer Partei zu Grunde gelegt wird und einer Nachprüfung durch das Rechtsmittelgericht grundsätzlich entzogen ist (a. A. Wolf in MünchKomm/ZPO, Aktualisierungsband, § 119 GVG Rz. 7).
Für den Streitfall bedeutet dies, dass das LG bei seiner Entscheidung von dem in der Klageschrift genannten und von den Beklagten im ersten Rechtszug nicht in Abrede gestellten Wohnsitz des Klägers in Frankreich auszugehen hatte, ohne dass es einer weiteren Nachprüfung bedurfte. Soweit die Beklagten sich gegen die vom LG im Wege des Freibeweises zur Frage des Wohnsitzes des Klägers bei Klageerhebung getroffenen Feststellungen wenden, können sie daher damit nicht gehört werden.
Fundstellen
Haufe-Index 1141272 |
BB 2004, 1077 |
NJW 2004, 3266 |
BGHR 2004, 983 |
EBE/BGH 2004, 3 |
FamRZ 2004, 1018 |
NJW-RR 2004, 1073 |
WM 2004, 2227 |
MDR 2004, 828 |
AIM 2004, 119 |
MK 2004, 100 |
ProzRB 2004, 192 |