Wirksame Berufung trotz fehlerhafter Angaben
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Anforderungen an die inhaltlichen Angaben in einer Berufungsschrift präzisiert und die gesetzlichen Vorgaben dabei großzügig ausgelegt. Entscheidend ist die eindeutige Identifizierbarkeit des angefochtenen Urteils.
Klageverfahren um non-binäre Anrede von Bahnkunden
Hintergrund der Entscheidung des BGH ist das in den Medien viel beachtete Klageverfahren um den Zwang für Bahnkunden, sich bei der Nutzung von Angeboten der Vertriebsgesellschaft der Deutschen Bahn zwischen der Anrede „Herr" und „Frau" entscheiden zu müssen. Das zuständige Landgericht (LG) hatte die Vertriebsgesellschaft der Deutschen Bahn auf die Klage einer non-binären Person zur Unterlassung verurteilt. Dagegen hatte die Vertriebsgesellschaft Berufung beim zuständigen Oberlandesgericht (OLG) eingelegt.
OLG verwarf Berufung als unzulässig
Das OLG wies die Berufung als unzulässig zurück. Begründung: Der Prozessbevollmächtigte hatte in der Berufungsschrift das mit der Berufung angegriffene Urteil des erstinstanzlichen Gerichts in dreifacher Hinsicht unrichtig bezeichnet: Sowohl die Angabe des Aktenzeichens als auch das angegebene Verkündungsdatum und das Zustellungsdatum waren unrichtig. Der Berufungsschrift war keine Abschrift der angefochtenen Entscheidung beigefügt.
Die allgemeinen Anforderungen an eine Berufungsschrift
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten legte der BGH die inhaltlichen Anforderungen an einen Berufungsschriftsatz deutlich großzügiger aus als die Vorinstanz. Gemäß § 519 Abs. 2 Nr. 1 ZPO muss die Berufungsschrift die Bezeichnung des angefochtenen Urteils so genau angeben, dass über die Identität des Urteils kein Zweifel bestehen kann (BGH, Beschluss v. 8.10.1986, IVa ZB 12/86). Dies werde in der Regel erreicht, wenn die Berufungsschrift
- die Angabe der an dem Rechtsstreit beteiligten Parteien,
- die Bezeichnung des Gerichts, welches das Urteil erlassen hat,
- das Verkündungsdatum und
- das Aktenzeichen des angefochtenen Urteils enthält (BGH, Beschluss v. 24. 4. 2003, III ZB 94/02).
Berufungsschrift eindeutig fehlerhaft
Insoweit stellte der BGH fest, dass die von der Beklagten eingereichte Berufungsschrift diesen Anforderungen nicht genügte. Insbesondere seien sowohl das Aktenzeichen als auch das Verkündungsdatum des Urteils nicht zutreffend angegeben. Dies führt nach Auffassung des Senats allerdings nicht automatisch zur Unzulässigkeit des eingelegten Rechtsmittels.
Grundsatz effektiven Rechtsschutzes erfordert großzügige Auslegung
Aus dem Grundsatz der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 2 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgt nach Auffassung des Senats, dass dem Rechtssuchenden der Zugang zu einer in der Verfahrensordnung vorgesehenen Instanz nicht unzumutbar erschwert werden darf (BGH, Beschl. v. 22.6.2021, VI ZB 15/20). Daraus folgt, dass fehlerhafte oder unvollständige Angaben in einer Berufungsschrift unschädlich sind, wenn sich aus den sonstigen erkennbaren Umständen für Gericht und Prozessgegner zweifelsfrei ergibt, welches Urteil angefochten werden soll (BGH, Beschluss v. 25.2.1993, VII ZB 22/92).
Identifizierung des angefochtenen Urteils war möglich
Im konkreten Fall kam der BGH zu dem Ergebnis, dass das OLG anhand der innerhalb der Berufungsfrist eingereichten Unterlagen in der Lage war, das angefochtene Urteil zweifelsfrei zu bestimmen. Zwischen den Parteien sei beim erstinstanzlich zuständigen Landgericht nur ein Rechtsstreit anhängig gewesen und es sei auch nur ein Urteil ergangen. Deshalb habe allein die richtige Bezeichnung der Parteien in der Berufungsschrift ausgereicht, um das angefochtene Urteil eindeutig zu identifizieren.
Unrichtiges Aktenzeichen und Verkündungsdatum schaden nicht
Die unrichtige Angabe des Aktenzeichens und des Verkündungsdatums stehe einer eindeutigen Identifizierung nicht entgegen. Das OLG habe die Akten beim LG angefordert und dort erfahren, dass es kein Urteil des LG mit dem angegebenen Aktenzeichen gebe. Mit einer weiteren Anfrage hätte das OLG daher anhand der Parteibezeichnung die Identität des angefochtenen Urteils feststellen können.
Zustellungszeitpunkt ist für Identifizierung unerheblich
Die unrichtige Angabe des Zustellungszeitpunktes des Urteils bewertete der Senat als unerheblich, weil dem Zustellungsdatum für die Identifizierung des angefochtenen Urteils keine erhebliche Bedeutung zukommt.
Auf den Zeitpunkt der Identifizierung des angefochtenen Urteils kommt es nicht an
Dass die Identifizierung des richtigen Urteils möglicherweise erst außerhalb der Berufungsfrist möglich gewesen wäre, ändert nach Auffassung des BGH an diesem Ergebnis nichts. Ausreichend sei, dass die innerhalb der Berufungsfrist eingereichten Unterlagen eine Identifizierung des angefochtenen Urteils ermöglichten.
Verwerfungsbeschluss aufgehoben
Der BGH hob daher den Verwerfungsbeschluss des OLG auf und verwies die Sache zur weiteren Behandlung an die Vorinstanz zurück.
( BGH, Beschluss v. 14.3.2023, X ZB 4/22)
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